Total übersinnlich. Charlotte Meyer

Total übersinnlich - Charlotte Meyer


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      Im Brief drückte ein Herr Dr. Wiener mir sein Beileid zum Tod meines Vaters aus und ich solle zum Zwecke der Testamentseröffnung des Herrn VALENTIN EMANUEL THIES einen Termin mit seiner Sekretärin abmachen.

      Na, das musste ja wohl ein Irrtum sein.

      Ich wollte die Leutchen aufklären und rief da an und verblüffte ein wenig die Sekretärin. Diese ließ sich aber gar nicht aufklären und stellte mich zu Dr. Wiener durch.

      Ich wusste danach den einzeln Wortlaut nicht mehr, aber der Mann ließ sich nicht beirren, bestand darauf, das ich persönlich zu ihm kommen sollte. Nein, so was besprach er nicht am Telefon.

      „Aber ich bin nicht die richtige Person. Glauben Sie mir.“

      Dazu musste ich sagen, der Mann war Luxemburger.

      Er sprach deutsch mit drolligem Akzent und sein Französisch war bestimmt auch witzig.

      Er selber war auch ein witziger Kerl.

      „Jou, jou, Mademoiselche. Ich kannte den Monsieuer Thies selberst. So en netter Kerl. Hat mir jeds Mol eh selberst gemachts Likörchen mitgebracht. Lecker.

      Vorhers hat ich noch nit e Papa, der druf bestand, en unehelische Kindchen zu haben.

      Die annern han immer Nee, Nee, Nee, gesaggst.- Ich han vor neun Jahren stundenlang schwätzte müsse. Er wollt Eure Mama verklagen, einen Vaterschafttest verlangen, Umgangsrecht einklagen. Das hat mich Nerven gekostest, den armen Kerl zu beruhigen. Er hat ja selverst gesehen, das es dem Mädelchen gutging.

      Das bringt nichts! Gericht und Richter. Die Mama wollt das so, das hätt nur Ärger und Ärger gegeben. Aber Ihr Mama hat versprochen, Euch alles über den Herrn Thies zu erzählen, wenn Ihr achtzehn geworden seit. Habt Ihr wenigstens auf die Beerdigung gehen dürfen? Unn die Briefe?“

      Er sagte IHR und EUCH, wenn er mich ansprach, das bedeutete nicht, das er mich doppelt sah, er hatte das einfach aus dem Dialekt ins Deutsche rübergeholt, das verwirrte mich.

      Er sprach und ich wusste nicht, ob es an seinem drolligen Akzent lag, oder an dem Inhalt des Gespräches. Ich verstand einfach nichts.

      Gar nichts.

      Ich stammelte, nichts von Briefen zu wissen.

      „Ei siehste, so was muss meer doch persönlich bespreche. Ich han morjen um zehn Uhr einen Termin frei.“

      Ich brachte dann nur noch eine Zusage heraus.

      In meinem Kopf drehte sich alles.

      Es gab einen Mann, der dachte, er sei mein Vater?

      Wie kam er denn da drauf?

      Ja, schon gut. Bienchen und Blümchen.

      Hey, ich kannte meine Geburtsurkunde, da stand Pauls Name darunter.

      Schon, ich war ein halbes Jahr vor ihrer Heirat geboren, aber so was konnte doch schon mal vorkommen, oder? Zumal meine Oma, also Mamas Mutter, kurz vor meiner Geburt gestorben war.

      Mama hatte immer mal wieder etwas von einem Trauerjahr gemurmelt.

      Der Tresor.-

      Geld, Gold und schweinische Bilder hob man doch im Tresor auf?

      Eine Stunde lang versuchte ich den Tresor zu knacken. Suchte nach der Zahlenkombination. Papa Paul war nicht gerade einfallsreich. Ich versuchte es mit unseren Geburtsdaten, Hochzeitsdaten und so.

      Schließlich gab ich es auf.

      So würde das nichts werden. Ich konzentrierte mich und machte meinen Kopf ganz leer.

      Ich benutzte mein Geheimnis.

      Versuchte mich zu erinnern, wer zuletzt diesen Tresor geöffnet hatte. Es war meine Mutter Martina gewesen. Das war blöd. Manchmal konnte ich über Gegenstände eine kleine Erinnerung abrufen. Aber bei Mama klappte das nicht.

      Die war sozusagen taub für mich.

      Das machte mich so fertig und durcheinander, ich konnte gar nicht mehr aufhören zu suchen.

      Ich durchwühlte Mamas Schlafzimmer. Ja, war schon peinlich, ihre Reizwäsche zu entdecken. Echt peinlich.

      Rote Seidenslips! Wer wollte so was wissen?

      Wenn sich das ganze hier aus Witz herausstellte, würde ich ihr zum nächsten Muttertag einen Gutschein für ein Dessous- Geschäft schenken, nicht wieder nur die übliche Schachtel Mon Chérie.

      Aber wenn diesem Dr. Wiener kein kompletter Irrtum unterlaufen war, begann hier und jetzt mein Weltbild zu schwanken. Und dann gab es diesmal keine Schachtel Pralinen.

      Ich wollte sofort, sofort wissen, was los war.

      Danach weinte ich eine Runde, weil es doch klar war, das ich nicht einfach ihre Sachen durchsuchen konnte. Besser, ich stellte sie heute zur Rede, als hier noch eine Peitsche oder so zu finden.

      Als ich gerade aufgab, berührte ich ein Feuerzeug in ihrer Schublade.

      Klar, sie versteckte alle Feuerzeuge, weil sie wußte, Paul rauchte immer noch heimlich ..... die Erinnerung durchzuckte mich wie ein Schlag.

      Es klappte. Weil ich nämlich Papa Pauls Erinnerung abbekam.

      Ich sah durch seine Augen. Sah den Stapel Briefe, die Mama im Garten verbrannte. Im Grillofen. Brief für Brief. Die meisten waren an sie adressiert, viele aber an mich.

      Leonie FISCHER.

      Diese Briefe waren für MICH. Und Mama verbrannte sie.

      Dann kam das Gefühl.

      Martina weinte dabei. Sie heulte und schluchzte, weil Paul sie entdeckt hatte. Sie stammelte wirres Zeug.

      Sie wollte nicht, das Paul sah, das ihr dieser Mann, an den sie nie wieder denken wollte, immer noch schrieb. Sie hatte einige der Briefe gelesen und sie hasste den Unsinn, den er schrieb.

      Paul war so ein guter Mann. Schon im Sandkasten ihr Freund, ihr Vertrauter. Deshalb verbrannte sie die Briefe. Und Leonie sollte nichts davon lesen, was er schrieb. Dieser vollkommen verrückte Unsinn.

      Sie kam auf mich ( Paul ) zu und schmiegte sich in meine ( seine ) Arme.

      Dann brach es ab und ich war froh darüber.

      Einen Moment hatte ich ein ganz leeres Gefühl in mir.

      Diese Emotionen waren so stark gewesen ..... ich hatte Mama noch nie weinen gesehen, und jetzt hatte ich es durch Paul GEFÜHLT.

      Melanie und ich verglichen das Lesen der Erinnerungen immer mit dem Lesen einer Geschichte im Buch. Aber es war viel stärker. Es ging viel tiefer in mich hinein als das Lesen einiger Seiten, die jemand niedergeschrieben hatte.

      Es war tausendmal intensiver, schmerzvoller.

      Melanie und ich hatten mit meiner Gabe ein wenig herum probiert, sie erforscht.

      Ich glaube, ich war damit geboren worden.

      Oft, schon als kleines Kind passierte es mir, wenn ich jemanden berührte.

      Meist kam ja gar nichts rüber, aber manchmal wusste ich einfach, das dieser jemand traurig war und warum.

      Früh brachte es mir den Ruf ein, sehr mitfühlend zu sein und früh war mir klar, das es besser war, nicht alles zu sagen, was ich bemerkte.

      Das machen Kinder so. Sie geben auch nicht zu, das nicht der Hund, sondern sie die Schokolade gefuttert haben.

      Also versteckte ich grundsätzlich meine mit Schokolade verschmierten Finger hinter meinem Rücken und verschwieg, was ich aus den Erinnerungen anderer Menschen wusste.

      Melanie sah das genauso. Sie fand es merkwürdig, das meine Mutter mich nie : „ Die unendliche


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