Unterwegs zu Sándor. Rainer Schulz
Land gekommen, um Siedlungen zu gründen, Wälder zu roden und Felder anzulegen. Sicher errate ich nun, wo sie gewesen sei.
„Du warst in Budapest?“, fragte ich.
„Nur drei Tage“, erwiderte sie, als sie Eva, eine mit ihrem Mann in die Hauptstadt gezogene Cousine besucht habe. Sie sei mit der U-Bahn und auf der Donau gefahren sowie an vielen Stellen gewesen: im Burgviertel, im Zoo, auf dem Heldenplatz, der Margareteninsel, dem Gellért-Berg. In drei, vier Jahren habe sie von unsrem Dorf aus mit mir hingewollt, um mir zu zeigen, was ihr einst gezeigt worden sei. Nun müsse ich später, falls sich die Verhältnisse ändern, ohne sie hin. Doch vielleicht werde ich sie in meinen Gedanken mitnehmen.
Sie wird uns, denke ich, wie bereits früher, wenn wir mit Ines oder zu zweit wie jetzt in der Stadt waren, überallhin begleiten. Diesmal jedoch wohl nicht allein. Wahrscheinlich gesellen sich, einmal in meine Überlegungen geraten, Ildikó und Sebastian hinzu, durch die wir, wären sie tatsächlich anwesend, viel über die Stadt und das, was sie hier erlebt haben, erfahren könnten. Aber dann sind sie, mal einzeln, mal gemeinsam, nur stumm und unsichtbar dabei, wenn wir im „Gerbeaud“, im „Ruszwurm“ oder im „Bagolyvár“ sitzen, von der Fischerbastei zwischen Deutschen, Franzosen, Japanern, Briten, Russen und Italienern aufs gegenüberliegende Parlament blicken, durchs malerische Szentendre bummeln, Galerien betreten und in Läden, in die uns ungewöhnlich gestaltete Schaufenster locken, nach Geschenken Ausschau halten, von einer Bank, die im Hof der märchenhaften Burg Vajdahunyad unter einer uralten Platane steht, zum Denkmal des Anonymus sehen, während wir einem ganz in sich und sein Tun versunkenen Harfenspieler zuhören, uns durch die Oper mit ihrem prächtigen Vestibül führen lassen und die Loge der Kaiserin Sissi besichtigen, neben der Donau auf dem Belgrád rakpart spazieren und verfolgen, wie wendige Schiffe übers glitzernde Wasser gleiten, in der großen, nahe der Szabadság hid gelegenen Markthalle die Fülle von Früchten, Gemüse, Fleisch, Fisch, Honig und Gewürzen bestaunen, irgendwo Lángos, Palacsinta, Halászlé, Pörkölt, Krémes, Dobostorta oder Somlói galuska essen, uns im prallen Sonnenschein, der die Quecksilbersäulen fast täglich bis 25 Grad Celsius klettern lässt, auf eine Bank am Rande des Stadtwäldchens setzen und zusehen, wie Jugendliche auf einer beschatteten künstlichen Eisfläche Schlittschuh laufen, durch die Váci utca schlendern, von Kellnern in Restaurants gebeten werden oder im Passantenstrom verheißungsvolle Werbezettel zugesteckt bekommen, auf dem Vörösmarty tér lange inmitten zahlreicher Neugieriger stehen und dem jungen Künstler zuschauen, der mit zwei Schlägeln, die er unablässig wirbeln lässt, übereinander gestapelten Trinkgläsern Töne entlockt, die sich mit Musik aus einem Rekorder zu wundersamen Melodien mischen, in muffigen Straßenunterführungen schwarzhaarigen, dunkeläugigen, armselig gekleideten Müttern begegnen, die auf schmutzigen Treppenstufen hocken, ihre müden, ergebenen Kleinkinder im Arm halten und aufdringlich betteln, die schmale, steile, mit buckligem Pflaster bedeckte Gasse zur hoch gelegenen Plattform auf dem Rózsadomb emporsteigen, wo Gül Baba, ein charismatischer türkischer Derwisch, über den Carola in einer Broschüre gelesen hat, vor fast fünfhundert Jahren in seinem Rosengarten zur letzten Ruhe gebettet wurde, das kleine, im Souterrain gelegene, Eckgeschäft aufsuchen, in dem wir bei einer grauhaarigen, stets freundlichen Frau auch spätabends noch kleinbeerige, schillernde Weintrauben kaufen können, die wie unsre daheim in Vaskút schmecken, vom Hotelzimmer die Sonne beobachten, wenn sie, ehe sie glutrot hinter den Bergen versinkt, kupfrigen Glanz über die Gipfel streut.
Als wir nach dem Abstieg vom Gellért-Berg mit der alten U-Bahn fahren – die Strecke, die Vörösmarty tér und Stadtwäldchen verbindet, war 1896 als erste auf dem europäischen Festland vollendet worden -, muss ich hintereinander an alle drei, die ich weiter in unsrer Nähe wähne, denken, weil auch sie wahrscheinlich, wie jetzt Carola und ich, in einem der kleinen, niedrigen Wagen gesessen haben: zuerst Großmutter während ihres Besuchs bei der Cousine, lange danach Ildikó, als sie studierte oder später für einen Verlag als Übersetzerin arbeitete, und zuletzt Sebastian, sobald er, ein Jahr vor dem Volksaufstand, an der Technischen Universität immatrikuliert worden war.
Wir verlassen die Bahn an der Station Oktogon. Auf der Andrássy út, die uns mit ihren hohen, breitkronigen Alleebäumen sowie den prachtvollen Bauten noch schöner als beim letzten Aufenthalt erscheint und mich ein wenig an die Sederot Ben Gurion in Haifa erinnert, merken wir, dass es ringsum ruhig wirkt, nirgends Polizisten zu entdecken sind, und die Menschen sich zwanglos bewegen, als hätte es gestern Abend keine Auseinandersetzungen vor dem Parlament gegeben.
Da es bis zu unsrer Abreise friedlich bleiben wird, ließe sich vermuten, sämtliche Spannungen seien bei den Zusammenstößen, die im Fernsehen so heftig gewirkt haben, dauerhaft abgebaut worden. Doch am Haus des Terrors, das wir wenig später erreichen, empfinde ich, dass nichts, was geschieht, spurlos vergeht, sondern im Gedächtnis der Beteiligten bleibt und zu Handlungen führen kann, deren Ausmaß sich nicht berechnen lässt. Vor dem Gebäude, das Ausstellungen beherbergt, die sowohl an Opfer der Kommunisten als auch der Pfeilkreuzler erinnern, brennen zwischen niedergelegten Blumen zahlreiche Lichter, die auf Fenstersimse, Wandvorsprünge und aufs Pflaster gestellt worden sind. In Augenhöhe bemerke ich durch Glasplatten geschützte Fotos. Sie zeigen die Gesichter von meist jungen Männern, die, während des Volksaufstands gefasst, als gefährliche Aufrührer verurteilt und hingerichtet wurden. Ihre Geburts- und Todestage stehen unter den Namen. Ob Sebastian wie sie mit der Waffe gekämpft hat? Oder ist er vielleicht weiter von den Gefechten entfernt gewesen als ich an jenem Junitag in Görlitz?
Verwirrt durch das Geschehen, wurde ich mit Tom vom Durchgang, wo man weiter den Polizisten schlug, auf den Markt gedrängt. Ich hörte, wie aus mehreren Lautsprechern das Deutschlandlied erklang. Nachdem es verstummt war, trat ein älterer Mann mit blassem Gesicht auf der Tribüne ans Mikrofon. Er hatte eine heisere, aber sehr eindringliche Stimme, der ich gebannt lauschte. Nun, da das Maß voll sei, sagte er, beginne eine neue Zeit, in der Freiheit für jedermann herrsche, die Macht der Bonzen endgültig gebrochen werde, überall Gerechtigkeit einkehre.
Danach hörte ich nicht mehr, was er sprach. Eingekeilt in die Menge, die oft klatschte, hatte ich plötzlich die Hoffnung, dass wir jetzt vielleicht in unser Dorf zurückkehren dürften. Ich stellte mir unser lindgrünes Haus vor, den blühenden Maulbeerbaum, die Sommerküche mit dem Backofen, meinte, Betyár und Schneewittchen zu sehen, mit Großmutter über die Hutweide zu gehen, neben Edit am Teich zu stehen, bis ich Toms Hand an der Schulter spürte und das dumpfe Dröhnen vernahm, das rasch anschwoll. Der Platz bebte, Ketten rasselten, Schreie gellten, die Masse wogte auseinander.
Ich begriff noch nicht, was geschah, als Tom mich dorthin zog, wo sich, genau in Richtung der Panzer, die unaufhaltsam heranrollten, eine breite Gasse öffnete. Vorbei an Leuten, die umgerissen, überrannt und niedergetrampelt wurden, liefen wir scheinbar schnurstracks ins Verderben.
Was hatte Tom vor? War er von Sinnen?
Als sich die Panzer keinen Steinwurf mehr von uns entfernt befanden, drängte er mich nach links, und wir erreichten, geschickt die vorhandenen Lücken ausnutzend, atemlos einen Hausflur. Wir hetzten die Treppen hoch, erkletterten vom offenen Boden das flache Dach und traten so nahe an den Rand, dass wir auf den Platz blicken konnten. Dort waren noch zahlreiche Leute, die, auf der Flucht durch eigenes Unvermögen oder fremde Schuld zurückgeblieben, verzweifelt versuchten, Seitenstraßen, Geschäfte oder die nahe Kirche zu erreichen. Die ersten Panzer walzten die Tribüne nieder und fuhren den Fliehenden hinterher. Ich beobachtete, wie eine alte Frau wenige Meter vor einer Haustür strauchelte, als Tom mich zu Boden riss. Kaum lagen wir, krachten Schüsse, und die Kugeln surrten dicht über uns hinweg.
Ich spüre, wie mein Puls in den Schläfen pocht, und als ich schlucken will, gelingt es mir nicht, weil mein Gaumen trocken ist. An Carolas Blick erkenne ich, dass sie ahnt, was in mir vorgeht. Mir gefällt, dass sie nichts sagt.
Hier war es, wie die Bilder der Hingerichteten belegen, gefährlicher als in Görlitz, denke ich. Viele wagten das Äußerste, um ihre Ziele zu erreichen. Der Aufstand brach erst zusammen, als der ungleiche Kampf gegen die russischen Panzer aussichtslos geworden war.
Ildikó und Sebastian kamen körperlich unversehrt davon. Beide begriffen, dass sie sich entscheiden mussten, wie und wo ihr Leben weitergehen sollte. Sebastian floh ins Ungewisse. Ildikó hingegen wusste, wohin