Unterwegs zu Sándor. Rainer Schulz

Unterwegs zu Sándor - Rainer Schulz


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die sich früher nach der Ankunft von Fernzügen auf den Bahnsteigen zwischen die Reisenden drängelten und beredt ihre Dienste anboten? Oder wie die dunkeläugigen, schwarzhaarigen, ärmlich gekleideten Mütter, die in muffigen Unterführungen auf schmutzigen, kalten Treppenstufen saßen, ihre müden, ergebenen Kleinkinder im Arm hielten und aufdringlich bettelten? Gibt es inzwischen Verbote, die verhindern sollen, dass sich Besucher wie wir belästigt fühlen? Solche Vorschriften würden, denke ich, nur ein scheinbar freundlicheres Bild vermitteln; denn für die Betroffenen dürfte es, ihrer vorher genutzten Möglichkeiten beraubt, noch wesentlich schwieriger sein, sich durchzuschlagen.

      Ich wundere mich, dass ich, als wir den tags meist stark belebten Moszkva tér erreichen, noch immer darüber nachsinne. Ist es, weil wir in Görlitz anfangs ebenfalls arm waren, es in dem einen zugewiesenen Zimmer, wo wir auf unsren Bündeln schliefen, keinen Schrank, keinen Tisch, keinen Stuhl, keinen Spiegel, keinen Teppich gab?

      Im Durchgang zur Metro sind wir gezwungen, uns in eine Schlange einzureihen. Weit genug vorgerückt, erkennen wir, dass jeder seinen Fahrschein zeigen oder bezahlen muss. In den nächsten Tagen wird es, wenn wir zur Bahn wollen, immer aufs Neue die gleichen Kontrollen geben. Obwohl die Uniformierten höflich sind, meine ich mehrfach, unter ihnen den Gendarmen zu entdecken, der uns an dem Tag, als ich mit Edit das letzte Mal Eis aus der Cukrászda aß, den Befehl gab, innerhalb einer Stunde unsre Sachen zu packen. Und einmal fällt mir ein, was Sándor in seinem Refugium auf dem Karmel erzählt und noch ausführlicher in seiner Niederschrift geschildert hat.

      Er musste, ohne etwas mitnehmen zu dürfen, drei Jahre vor uns fort. Mit Ildikó nach dem Unterricht aus dem Gymnasium von Baja nach Vaskút zurückgekehrt, spürte er, kaum in die Postgasse eingebogen, wo sich viele Bewohner in kleinen Gruppen vor ihren Gehöften aufhielten, dass sich etwas Ungewöhnliches ereignete. Noch nie, schien ihm, hatten die Leute so unverhohlen auf seinen gelben Stern gestarrt. Einige Frauen liefen in geringem Abstand hinter ihnen her, als wollten sie von dem, was sie erwarteten, nichts verpassen. Keinen Steinwurf mehr von ihrem Eckhaus entfernt, erkannte Sándor, dass seine Eltern, flankiert von zwei ungarischen Gendarmen, durchs breite Tor traten. Die Menge, die sich angesammelt hatte und wenig später den kaum verwaisten Laden plündern würde, wich nur so weit auseinander, dass ein schmaler Gang für die kleine Gruppe entstand. Durch den sah Sándor seine Eltern und die beiden Polizisten auf sich zukommen. Der Vater wirkte kleiner als sonst, da er den fast haarlosen Kopf gesenkt hielt, und die Mutter umklammerte seinen rechten Arm, wie wenn sie ihn oder sich stützen wollte. Augenblicke dachte Sándor daran, dass er sich umdrehen und weglaufen könnte. Aber gleich darauf begriff er, dass er nicht weit käme, weil die Leute vor ihrem Geschäft, die, so schien ihm, feindselig herüberblickten, wohl nur darauf lauerten, ihn wie eine Meute blutrünstiger Hunde zu hetzen. Und den Gendarmen, deren finstere Gesichter er jetzt deutlich wahrnahm, traute er zu, bedenkenlos auf ihn zu schießen.

      Davon überzeugt, dass sich eine günstigere Möglichkeit bieten würde, doch noch zu entkommen, berührte er Ildikó flüchtig an der Schulter und ließ sich scheinbar willig wegführen. Es war ein Abschied für sehr lange Zeit. Erst zwölf Jahre später sahen sie sich in Haifa wieder.

      Sehr oft, denke ich, als wir in der Metro sitzen, habe ich, wie einst, aus dem Kindergarten heimwärts unterwegs, jenen langen, von SS-Soldaten scharf bewachten Zug gesehen, der aus dem Süden heranrückte und nordwärts getrieben wurde. Ich bemerkte Junge und Alte, Frauen und Männer, Mütter, die ihre Säuglinge im Arm hielten, und Väter, die kleine Kinder auf den Schultern trugen. Manche taumelten und vermochten sich kaum noch auf den Beinen zu halten, verließen aber aus Furcht, beschimpft, getreten oder geschlagen zu werden, nicht ihre Reihen. Und dann entdeckte ich Sándor, der, mit seinen Eltern zur Kolonne gebracht, neben ihnen schritt. Er sah, schien mir, als Einziger furchtlos zu mir. Wollte er zeigen, dass er entschlossen war, sich der Gefahr zu stellen, wie er es später mit seiner waghalsigen Flucht bewies?

      Diese Minuten – oder waren es vielleicht bloß Sekunden? – prägten sich mir so fest ein, dass sie mir nicht nur, solange wir in unsrem lindgrünen Haus wohnen durften, immer wieder in den Sinn kamen, sondern auch viel später noch, in Görlitz, wenn ich an der ungenutzten Synagoge oder am alten jüdischen Friedhof vorbeiging. Doch manchmal verschwamm das Bild und wich einem andren, durch das ich, glaube ich heute, mit Sándor gleichzeitig an daheim erinnert werden sollte: Ich meinte, ihn wie einst, als die Akazien weiß und lila blühten, tief über den Lenker gebeugt, auf seinem funkelnden Fahrrad zwischen den wenige Armspannen voneinander entfernten Baumreihen, die sich scheinbar schnurgerade vor den Häuserfronten erstreckten, über unsre ungepflasterte Straße fahren zu sehen, und Herkules, sein großer, zotteliger Hund, lief, ohne dass er Sándor einzuholen vermochte, hechelnd hinter ihm her.

      Noch unsicher, wohin wir uns zuerst wenden wollen, steigen wir am Hotel „Astoria“ aus. Nachdem wir ein Stück gegangen sind, entdecken wir auf der linken Seite die zwei hoch aufragenden Zwiebeltürme der Großen Synagoge. Hinter ihr, am Tor des ehemaligen Gettos, stoßen wir auf eine Skulptur von Imre Varga. Sie ist Mahnmal für die jüdischen Toten des Zweiten Weltkriegs in Ungarn, zu denen ich vermutlich die meisten aus der Kolonne, die durch unser Dorf getrieben wurde, zählen muss. Es sollen, habe ich gelesen, über eine halbe Million Menschen umgekommen sein.

      Während wir die stilisierte Trauerweide betrachten, deren lange, dünne, aus Chromstahl gefertigten Zweige mit den abwärts gewandten sieben Menora-Ästen verflochten sind und auf 30 000 Blättern die Namen von Ermordeten tragen, ist mir, als wäre ich mit Ines, weit über Haifa, sieben Kilometer vom Zentrum entfernt, wieder auf dem Campus der Universität vor einer ähnlichen Gedenkstätte. Baum der Schmerzen genannt, ist sie eine eigenwillige Stahlkonstruktion wie die, vor der ich jetzt mit Carola stehe.

      Ein Stück neben dem Karmel National Park, zwischen Akazien und andren Bäumen versteckt, war sie nicht leicht zu finden gewesen. Sie soll sieben Meter hoch sein und aus 1400 dünnen, glitzernden Blättern bestehen, die an weit verzweigten Ästen hängen und bei Luftbewegungen eine Art sphärische Musik erzeugen, die, wenn man fähig ist, es zu hören, leisem, wehmütigem Seufzen gleicht, das im Wind verweht.

      Wie oft, denke ich, mag Sándor, solange er an der Universität gelehrt hat, hingegangen sein, um sich an seine verschollenen Eltern zu erinnern?

      Ich fühle mich ihm, ähnlich wie auf dem Campus am Rande von Haifa, plötzlich wieder nahe, als wären wir noch im Dorf, wo wir beide nicht bleiben durften. Mir wird bewusst, dass ich mich den Bildern, Gedanken und Empfindungen, die einst Erlebtes heraufbeschwören, bis heute nicht entziehen kann. Dabei dachte ich mal, dass Erinnerungen erlöschen, wenn man sie nicht wachhält. Sie verkümmern, glaubte ich, wie eine Sprache, die man erlernt hat und nicht mehr benutzt. Stück für Stück rutscht weg, Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat, und was zurückbleibt, zerreiben die Jahre.

      Nie vorher, begreife ich, habe ich klarer als jetzt erkannt, wie trügerisch meine Hoffnung gewesen ist.

      Während wir zwei Tage später über den weiträumigen, gepflegten Farkasréti-Friedhof gehen, um die Gräber von Kodály, Bartók und andern aufzusuchen, meine ich, noch einmal vor dem Lebensbaum mit den abwärts gewandten Menora-Ästen zu stehen. Carola hat Augenblicke gezögert, mich zu begleiten, weil ihr Verhältnis zu den stillen, einsamen Ruhestätten zwiespältig ist.

      „Grabmale ziehen mich an und schrecken mich ab“, hat sie mal gesagt. „Meist aber überwiegt die Neugier, versuche ich, aus den spärlichen Angaben, die der kalte Stein speichert, zu ergründen, wie die Toten, die unter ihm liegen, als Lebende gewesen sein mögen. Dabei erinnere ich mich oft an die Leute, die mir nahestanden, bis sie für immer gegangen sind.“

      Auch Großmutter Gertrud, denke ich, ist schon lange gegangen. Wir mussten sie fern von ihrem Mann, meinem Großvater Anton, den ich, da er zu früh gestorben ist, nicht kennenlernen konnte, in Görlitz beerdigen.

      Mir fällt ein, wie wir uns an jenem Tag, als bereits Hunderte deutsche Dorfbewohner, von mehreren Gendarmen bewacht, am Bahnhof auf ihren Bündeln lagerten und den Güterzug erwarteten, der uns nach Sachsen bringen würde, noch einmal heimlich entfernt, aus der Sommerküche Großmutters vergessene Brille geholt und den Rückweg über den Friedhof genommen hatten.

      Vor Großvaters Grab blieben wir


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