Unterwegs zu Sándor. Rainer Schulz
Es würde ihr nicht vergönnt sein, die Ruhestätte weiter zu pflegen. Wie immer, wenn sie sich am Grab aufhielt, glaubte sie, Großvater mit seinen graugrünen, lebhaften Augen, der kurzen, geraden Nase und dem gezwirbelten Schnurrbart vor sich zu sehen.
War es die ungute Vorahnung, die sie nach einem Ausweg suchen ließ? Was wäre, überlegte sie, wenn sie nicht zum Bahnhof zurückkehrte, sondern sich im nahen Wald oder in unsrer Weingartenhütte versteckte? Wer könnte sie dann noch zwingen, den Landstrich, mit dem sie sich zutiefst verbunden fühlte, zu verlassen? Aber wenn sie bliebe, würde sie für immer von uns getrennt sein. Schien eins nicht so schlimm wie das andre?
Sie kniete mit zuckenden Schultern, die Hände zum Gebet gefaltet, und es sah aus, als fehlte ihr die Kraft, sich zu erheben. Schließlich raffte sie sich doch auf und ging rasch mit mir davon, als fürchtete sie, es sich noch anders zu überlegen.
In den nächsten Tagen, die uns merklich kühler erscheinen als bei unsrem letzten Aufenthalt, obwohl wir da eine Woche später hier gewesen sind, suchen wir neben Orten, die wir vorher nicht gekannt haben, wiederholt vermeintlich vertraute Stellen auf, wo wir jedoch kaum etwas genauso antreffen, wie wir es vor einem Jahr wahrgenommen haben.
Als wir, nur ein Stück vom Heldenplatz entfernt, auf der Terrasse des versteckt gelegenen Restaurants sitzen und Mittag essen, kommt, solange wir dort sind, der graugetigerte, immer hungrige Kater, der mich an unsre einst zurückgelassene Macska Schneewittchen erinnert hat, nicht mehr; unter der uralten Platane hinter der Burg Vajdahunyad bleibt es, wenn kein Liebespaar zum Anonymus geht, gleichzeitig oder nacheinander seinen schon stark abgegriffenen Stift, den er zwischen den Fingern hält, wie einen Talisman berührt und sich dabei halblaut unterhält, ungewöhnlich still, weil der Harfenspieler fehlt; und auf dem mit Splitt bestreuten Platz im Stadtwäldchen, wo neben dem eingezäunten Spielfeld mehrere Bänke im Halbkreis stehen, die meist überwiegend besetzt sind, warten wir, derweil wir dem geschäftigen Treiben von Hunden, Sperlingen und Tauben zusehen, vergeblich auf den alten, hageren Mann mit bärtigem Gesicht, zottigem Haar, schäbiger Kleidung und abgelaufenen Schuhen, um zu beobachten, wie er zuerst Bier aus einer Dose trinkt, dann auf unnachahmliche Art die geschnorrte Zigarette hinter seiner Ohrmuschel hervorlangt und viele Male um Feuer bitten muss, bis jemand bereit ist, ein Streichholz für ihn anzureiben wie ich vor einem Jahr.
Ich ahne, dass Carola, die sich auf der Bank zurücklehnt, und, um nicht geblendet zu werden, ihre Augen schließt, ebenfalls spürt, was sie und mich gleichermaßen beschäftigt. Doch erst als wir eines Nachmittags vor dem „Gerbeaud“ unter einem Sonnenschirm sitzen, Cappuccino trinken, Dobostorta essen und gelegentlich zu den beiden Stehgeigern blicken, die, um möglichst viele Münzen in ihren Hut geworfen zu bekommen, ein Stück entfernt auf dem Vörösmarty tér unermüdlich spielen, sprechen wir darüber.
„Schuld daran“, sagt sie, „sind nicht allein die Gegebenheiten oder Umstände, wenn sich so selten genau das einstellt, was wir erwarten.“
„Sondern?“, frage ich.
„Es liegt, glaube ich, mehr an uns selbst.“
„Das heißt?“
„Wir sind nicht mehr die, die wir beim letzten Mal waren. Jede Stunde, in der wir wach sind, verändern wir uns durch das, was uns widerfährt. Sicher, es geschieht immer nur ein klitzekleines bisschen, so dass wir’s von Tag zu Tag nicht bemerken. Aber wenn wir nach einem Jahr dorthin zurückkehren, wo wir gewesen sind, zeigt sich, dass wir aus dem Blickwinkel von heute in unsrem Gedächtnis ein überholtes, unvollständiges Bild gespeichert haben, weil wir nun anders sehen, werten und empfinden. Oder wie erklärst du’s dir?“
„Ähnlich.“
Hinzu kommt, denke ich, dass wir von manchem nichts gewusst haben: nicht von Elisabeth Sass Brunner und ihren eindrucksvollen, in Japan, Indien und anderswo gemalten, sehr farbigen Bildern, die mich in der Ausstellung auf der Andrássy ut stark berührt und zum Vergleich mit andren Kunstwerken angeregt haben, nicht von Rahel Sanzara, die dort, wo wir jetzt wohnen, geboren wurde und in Budapest ihre ersten Erfolge als Tänzerin feierte, bevor sie Schauspielerin in Prag und schließlich eine viel gelesene Schriftstellerin in Berlin wurde, nichts vom alten Café „Pilvax“ in einer Seitenstraße zur Váci utca, wo sich Petöfi im März 1848 mit Gleichgesinnten traf, nichts davon, dass die seinerzeit auf dem Friedhof Rákoskeresztúr verscharrten Opfer des Volksaufstands erst 1989 in Ehren bestattet wurden.
Während ich verfolge, wie die Geiger, anscheinend enttäuscht von den wenigen Münzen, die sie im Hut finden, ihren Platz verlassen, geht mir durch den Sinn, dass frisch erworbenes Wissen nicht nur das bereits vorhandene erweitert, sondern gleichzeitig noch mehr Möglichkeiten schafft, Geschehnisse, Einsichten und Empfindungen gedanklich miteinander zu verbinden, was manchmal zu unerwarteten Ergebnissen führt: Als wir im Stadtwäldchen, fast an der gleichen Stelle wie voriges Jahr, auf einem schon kahlen Baum mehrere graue Raben entdecken, fällt mir nicht ein, wie ich winters einst durchs teilweise vereiste Küchenfenster im Geäst der drei mächtigen Eichen hinter Lackners Gehöft ihre schwarzgefiederten Artgenossen beobachtete, sondern die, wie ich gelesen und von Sándor gehört habe, inzwischen vogelarme Innenstadt von Mexiko-City, wo ein gesunder, aus dem Tiefland stammender Papagei, den ein Journalist im Käfig auf den Zócalo brachte, um zu beweisen, wie schlecht die Luft geworden sei, bereits nach kurzer Zeit zusammenbrach und qualvoll verendete. Die Männer in schwarzen Uniformen, die einen Tag, bevor sich der Volksaufstand jährt, zugweise mit finsteren Mienen, die ahnen lassen, was sie für den nächsten Abend planen, schneidig von der Andrássy ut auf den Heldenplatz marschieren, erinnern mich nicht an die Auseinandersetzungen vor zwölf Monaten, die wir, kaum ins Hotel gekommen, auf dem Bildschirm sahen, sondern an die noch sehr jungen Männer daheim, die, im letzten Kriegssommer zur SS gepresst, verblendet von großspurigen Reden, forsch aufbrachen und Monate später, falls sie am Leben geblieben waren, von Rotarmisten als Gefangene durchs Dorf in eine ungewisse Zukunft getrieben wurden. In der Großen Markthalle, die wir noch einmal aufsuchen, um etwas für die Heimfahrt zu kaufen, meine ich nicht, auf dem Basar von Taschkent, Duschanbe, Akko oder Haifa zu sein, sondern ganz unvermittelt in unsrer Sommerküche, die an Vaters Stellmacherwerkstatt grenzte. Es geschieht, als wir durch ein großes Fenster beobachten, wie innen ein Mann und eine Frau bereits zu einem Laib geformten Strudelteig, ohne dass er irgendwo einreißt, mit geübten Bewegungen scheinbar mühelos über einen langen, breiten Tisch ziehen, um ihn mit Quark zu füllen. Von einer Minute zur andern ist mir, als säße ich wie einst auf der schmalen Holztreppe, die zum Boden führte, streichelte das samtweiche Fell Schneewittchens und sähe zu, wie Großmutter hantierte, bis ich verstünde, dass es besser wäre, ihr zu helfen.
Während ich, zu ihr geeilt, emsig Mohn mahlte, walkte sie den Teig, bis er nicht mehr an ihren Fingern haften blieb. Sie legte ihn auf einen Teller, deckte ihn mit einem Tuch ab und bereitete aus Apfelstücken, Weichselkirschen, Nüssen, Rosinen, Zucker sowie dem locker gewordenen Mohn die sämigen Füllungen vor.
Spannend wurde es, sobald sie den Teig auf der bemehlten Tischdecke zuerst leicht mit einem Nudelholz ausrollte, und dann, indem sie darunter griff, nach allen Seiten zu ziehen begann, bis er so dünn wurde, dass man fast hindurchsehen konnte. Nachdem die Füllungen gleichmäßig darauf ausgebreitet waren, rollten wir ihn mit Hilfe der Tischdecke, die wir stückweise anhoben, vorsichtig zusammen und verteilten das lange, schlauchförmige Gebilde, mehrfach gewunden, in zwei hochwandige Bleche.
Inzwischen hatte Mutter den Backofen angeheizt, was, wenn es kalt war, auch Vater zugutekam, da die heiße Rückwand, die sich bauchig in seine Werkstatt wölbte, reichlich Wärme abstrahlte.
Das Blitzlicht, das flackert, weil Carola den Mann und die Frau hinter dem großen Fenster beim Arbeiten fotografiert, erinnert mich daran, wo wir uns befinden. Was wir benötigen, ist schnell eingekauft. Als wir ins Freie treten, steht die Sonne schon tief. Mir wird bewusst, dass wir am nächsten Morgen abreisen werden und noch nicht, wie beabsichtigt, über die Kettenbrücke gegangen sind. In der Metro, die wir bis Vörösmarty tér benutzen, reihen sich, während ich durch eine trübe Scheibe ins Dunkel starre, tatsächliche und ausgemalte Bilder zum Film, der rasch vor mir abläuft. Von der Brücke, die viele Menschen überqueren, blicke ich wiederholt zum Parlament, um sicher zu sein, dass ich es einmal so wahrnehme, wie es einst Großmutter