Unterwegs zu Sándor. Rainer Schulz

Unterwegs zu Sándor - Rainer Schulz


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Predigt mit rauen Kehlen das Tedeum anstimmten, scholl aus dem zweiten Heiligtum wilder Gesang, den die aztekischen Priester zu Ehren Huitzilopochtlis erhoben. Die dunkelhäutigen Krieger, die nur wenige Schritte von uns entfernt in ihre Andacht versunken waren, hörten beides wie wir, und da sich in diesem Augenblick niemand an dem doppelten Ritual zu stören schien, kam mir in den Sinn, dass eins das andre nicht ausschließen müsste, wenngleich ich, noch ehe sich der Gedanke verfestigen konnte, zu bezweifeln begann, dass ihn jemand verstehen würde.

      Als wir ins Freie treten, werde ich von der schon tief stehenden Sonne geblendet, dass ich die Augen schließen muss. Mir ist immer noch, als höre ich von fern das Tedeum, aber nun klingt es, wie es mir aus unsrer Stadtkirche vertraut ist. Meine leichte Benommenheit weicht erst, als wir schon in der U-Bahn sitzen. Am Heldenplatz steigen wir aus, gehen in den Hof der Burg Vajdahunyad, entdecken wieder den Harfenspieler, setzen uns auf die Bank unter der Platane und hören ihm zu, während mein Blick öfter zum Denkmal des Anonymus gleitet, der durch seine weit ins Gesicht gezogene Kapuze rätselhaft wirkt, wie er zu Lebzeiten gewesen ist. Er konnte sein Geheimnis so gut bewahren, dass bis heute umstritten ist, wer sich hinter dem Autor der vor über achthundert Jahren entstandenen „Gesta Hungarorum“ verbirgt. Vielleicht, denke ich, hätte ich, solange die Mauer noch stand, die man in jener Augustnacht zu errichten begann, als ich vom Bahnhof Zoo mit Anke in der S-Bahn ostwärts fuhr, manche Texte als Namenloser veröffentlichen sollen, wenn es unter den gegebenen Umständen möglich gewesen wäre.

      Als in der Nähe einige Raben krächzen, schrecke ich aus meinen Überlegungen. Ich entdecke sie im Geäst eines Baums. Sie sind grau wie jene, die wir zwei Tage vorher im Burgviertel gesehen haben. Früher, in unsrem Dorf, kannte ich nur welche mit pechschwarzem Gefieder. Im Winter sah ich oft durchs Küchenfenster, wie sie sich gegenüber, hinter Lackners Gehöft, zu zehnt oder mehr auf den kahlen, erstarrten Ästen der drei mächtigen Eichen niederließen. Ich hörte die hungrigen Vögel krächzen und beobachtete sie durch eine kleine Sichtfläche, die ich immer wieder ins Eis hauchen musste, weil es sich rasch auf der Scheibe nachbildete. Im Sonnenschein, der ihr Gefieder versilberte, wirkten die Raben groß und schön. Doch trübte es sich ein, schrumpften sie zu winzigen schwarzen Flecken auf einem düsteren Aquarell, das vom Schnee, wenn er dichtflockig zu fallen begann, verwischt wurde.

      Carola wirft dem Harfenspieler einige Münzen in die Holzschale, die neben ihm auf einem Hocker steht. Unter den Bäumen des Stadtwäldchens, die unsren Weg säumen, merken wir nicht, dass die Helle überall zu schwinden beginnt, weil sich die dunkel geränderten Wolken rasch vermehren und immer häufiger die Sonne verdecken. Als wir eine mit Splitt bestreute Fläche errei­chen, auf der mehrere Bänke in gleichmäßigen Abständen vor niedrigem Buschwerk stehen, blinzelt sie gerade durch eine Lücke. Nachdem wir uns gesetzt haben, wird mir bewusst, dass ich vor etlichen Jahren schon mal hier gewesen bin. Ich erkenne es an dem kleinen, durch hohe Gitterwände eingezäunten Sportfeld, auf dem wieder einige Jugendliche Fußball spielen. Auch jetzt schaue ich ihnen nur zu, bis ich begreife, dass die Geschehnisse, die ringsum von Kindern, Erwachsenen, Hunden, Katzen, Sperlingen und mehreren Tauben bestimmt werden, kurzweiliger sind. Besonders ein mittelgroßer, hagerer, etwa sechzigjähriger Mann mit bärtigem Gesicht, zottigem Haar, schäbiger Kleidung und abgelaufenen Schuhen erweckt meine Aufmerksamkeit. Er erinnert mich ebenso an den brabbelnden Stadtstreicher, den wir am ersten Morgen im Park nahe dem Moskva tér gesehen haben, wie an den Obdachlosen, der in Jena durch unsre Siedlung stromert und die Deckel der Mülltonnen hebt. Doch während er zu einer freien Bank torkelt, sich umständlich setzt, eine Bierdose öffnet und in kurzen Abständen trinkt, beginne ich zu ahnen, dass ich ihm seinerzeit auf diesem Platz begegnet bin. Als er dann auf unnachahmliche Art an seine linke Kopfseite greift, um sich zu überzeugen, ob die Zigarette, die ihm jemand geschenkt haben mag, noch hinter der Ohrmuschel klemmt, bin ich fast sicher, dass ich mich nicht irre. Wie erwartet, steht er etwas später auf und blickt sich nach jemand um, der ihm Feuer geben könnte. Es scheint, als ergehe es ihm wie damals. Von denen, die er nacheinander anspricht, will oder kann ihm niemand behilflich sein. Schon sieht es aus, als wolle er enttäuscht zu seinem Platz zurückkehren. Da nähern sich ihm drei junge Männer, und einer langt, scheinbar beflissen, sein Feuerzeug aus der Hosentasche. Als der taumelnde Mensch, die Zigarette bereits zwischen seinen Lippen, den Kopf vorschiebt, wird es blitzschnell zurückgezogen und einem der beiden Begleiter zugeworfen. Der wartet, bis der Angetrunkene fast heran ist, ehe er das glitzernde Feuerzeug dem Dritten zuschmeißt, der es geschickt auffängt. Vielleicht, denke ich, ist es nur ein Spiel, wie es manchmal aus Übermut entsteht, und das, wenn sich der Genarrte eine Weile abmüht, noch versöhnlich endet, ohne dass jemand eingreift. Doch ich fühle mich plötzlich auf den Schulhof in Görlitz versetzt, wo Joki, der uns Zugezogene nicht mochte, Anna, die mit ihren Eltern im selben Güterzug wie ich gewesen war, ihre Strickmütze vom Kopf gerissen hatte und sie sich mit seinen Kumpanen zuwarf. Anna rannte, so schnell sie konnte, von einem zum andern, doch sie kam immer zu spät, und je länger sie sich vergeblich anstrengte, desto lauter wurde das schadenfrohe Gelächter der Jungen. Auf einmal blieb sie stehen und schaute mit erhitztem Gesicht zu den Gaffern, die sich ringsum aufgestellt hatten. Ihr Blick wirkte, oberflächlich betrachtet, nur ratlos. Ich aber meinte, in ihren Augen auch einen Vorwurf zu entdecken, als wollte sie uns zurufen: Warum lasst ihr mich im Stich?

      Da niemand bereit schien, ihr beizustehen, wandte sie sich ab, um den ungleichen Kampf vermeintlich allein fortzusetzen. Doch sie war nicht mehr allein. Ich näherte mich von hinten unbemerkt Joki, und als die Mütze wieder auf ihn zuflog, sprang ich blitzschnell vor und schnappte sie ihm weg.

      Für den Angetrunkenen, der schon heftig keucht und gerade zum zweiten Mal strauchelt, wird es, vermute ich, wenn ihm nicht ebenfalls jemand hilft, kaum noch glücklich enden. Als ich mich erhebe, spüre ich, dass mich Carola, die nicht weiß, was ich vorhabe, zurückhalten will. Doch ich gehe auf die Gruppe zu, warte, bis der Genarrte an mir vorbeitorkelt, und berühre ihn an der Schulter. Zuerst trifft mich, während er den Kopf wendet, sein wütender Blick, als glaube er, ich wolle die drei jungen Männer unterstützen. Aber dann entdeckt er die flache Schachtel, die ich zwischen Daumen und Zeigefinger halte. Zögernd dreht er sich um, ohne dass sein Argwohn aus den verkniffenen Augen weicht. Sobald ich ein Streichholz anreibe, schirmt er das Flämmchen mit seinen großen, rauen Händen ab und entzündet die zerknüllte Zigarette. Bevor er sich bedanken kann, bin ich, ohne mich um die verdutzten jungen Männer zu kümmern, bereits auf dem Rückweg zur Bank. Carola ist inzwischen aufgestanden und deutet besorgt zum Himmel. Da erkenne auch ich, dass die Wolken zu einer düsteren Fläche verschmolzen sind, die wie eine aschgraue, verschlissene Decke über uns hängt.

      Wir müssen uns sputen, um rechtzeitig einen sicheren Unterschlupf zu finden. Der Wind, der jäh aufkommt, faucht in die Wipfel, dass Blätter von den Zweigen stieben und durch die Luft wirbeln. Wir hasten am Harfenspieler vorbei, der seine Utensilien in ein Auto packt, eilen über den Heldenplatz und erreichen die Treppe zur U-Bahn-Station, ehe die ersten großen Tropfen niederprasseln.

      Als wir, noch ein wenig atemlos, in dem kleinen Waggon sitzen, der unter der Andrássy út donauwärts fährt, muss ich erneut an Großmutter, Ildikó und Sebastian denken. Flüchtig ist mir, als seien sie wie an den übrigen Tagen in unsrer Nähe. Danach spüre ich, während Carola mich ansieht, jenes schwer erklärbare Gefühl, das sich zuweilen einstellt, wenn ein Abschnitt zu Ende geht, und man möchte, dass er noch dauert.

      DER REGENBOGEN

      Nichts ist, denke ich, als ich, kaum erwacht, durchs Fenster die bleiweiße, rötlich umgrenzte Sonne sehe, genau wiederholbar. Wir sind im selben Hotel, unser Zimmer befindet sich wie vor einem Jahr im 7. Geschoss des hohen, zylindrischen Bauwerks, ist, sofern ich mich richtig entsinne, eingerichtet wie das andre, weist die gleichen, leicht konisch verlaufenden, zartgelb getünchten, Seitenwände auf, hat nur eine um sechs Ziffern höhere Nummer und liegt, wenn man aussteigt, nicht rechts, sondern links vom Lift.

      Meine Einsicht fußt bloß bedingt auf dieser scheinbar belanglosen Äußerlichkeit, obgleich ihr für das, was ich eigentlich meine, ebenfalls eine gewisse Wirkung zufällt. Während ich das letzte Mal durchs Fenster verfolgen konnte, wie die Sonne, ehe sie glutrot hinter den Ofner Bergen versank, kupfrigen Glanz auf die Gipfel hauchte, vermag ich jetzt zu beobachten,


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