Transasia. Von Karachi nach Beijing. Ludwig Witzani
an ästhetischer Überwältigung kommt dem Erlebnis gleich, wenn ein Großraumflugzeug beschleunigt, die Schwerkraft überwindet und sich in die Lüfte erhebt. Im Innern der vibrierenden Riesenmaschine schrumpft der Passagier auf die seelischen Ausmaße eines Vögelchens, hört sein Herz schlagen im Rhythmus der mühsam unterdrückten Besorgnis und atmet erleichtert auf, wenn die Warnzeichen ausgehen und der Bordservice beginnt.
So war es auch auf dem Flug LH 764 von Frankfurt nach Karachi. Die Maschine war gut gefüllt mit zwei Arten von Passagieren. Die erste Gruppe bestand aus Männern und Frauen mit rosigen, gesunden Gesichtern, die einer Reise in die Berge entgegensahen, denn die Lufthansa-Maschine würde nach ihrem Zwischenstopp in Karachi nach Nepal weiterfliegen. Die Angehörigen der zweiten Gruppe waren Pakistanis, die aus Europa nach Pakistan heimflogen. Ein Teil der pakistanischen Frauen war schwarz verschleiert, andere saßen in bunten Kostümen in der Business-Class. Einige der älteren pakistanischen Männer waren in eng sitzende Anzüge gezwängt und glichen Patriarchen, deren Zorn man nicht gerne erleben wollte. Die Kinder waren laut und ausgelassen, auch die Mädchen, von denen die meisten bald hinter Schleiern verschwinden würden. Ich flog nach Pakistan, einem Land mit tausend Fragezeichen.
Das fing schon mit dem Namen des Landes an, über dessen Etymologie zwei Versionen kursierten. Die erste bezog sich auf die Landessprache Urdu, in der „Pakistan” „Land der Reinen” bedeutet. Die zweite, unbekanntere Version ging zurück auf den Unabhängigkeitsaktivisten Choudhary Rahmat Ali, der den Begriff „Pakistan” als ein Kunstwort aus lauter Akronymen für die fünf Hauptlandschaften des Landes konstruierte, nämlich dem Punjab, Afghanistan (=Paschtunistan), Kashmir, den Sindh und Belutschistan.
Geschichtlich gehörte das heutige Pakistan seit uralten Zeiten zu Indien, allerdings einem Indien, das viel größer war als die heutige Indische Union und auch den Westen um den Indus und den Osten um die Mündung des Ganges-Brahmaputra umfasste. Dieser Subkontinent war seit dem Mittelalter zweigeteilt, in eine weit überwiegende hinduistische Bevölkerungsmehrheit und eine moslemische Minderheit. Beim Abzug der britischen Kolonialmacht im Jahre 1947 entstanden dementsprechend zwei Staaten mit wahrlich unmöglichen Grenzen, eben Indien als Kernland und an seinen Rändern das Kunstgebilde Pakistan, aufgeteilt in Westpakistan (das heutige Pakistan) und Ostpakistan, das sich 1972 als Bangladesch von Pakistan abspaltete. Die schrecklichen Ausschreitungen und die Hunderttausende an Todesopfern, die mit der Teilung des indischen Subkontinents verbunden gewesen waren, haben das politische Klima zwischen Indien und Pakistan bis auf den heutigen Tag vergiftet.
Das aktuelle Pakistan gehört mit ca. 225 Millionen Einwohnern auf knapp 800.000 Quadratkilometern zu den bedeutendsten Staaten Südasiens, und doch steht es im Schatten des noch viel größeren indischen Erbfeindes. In vier Kriegen und endlosen Scharmützeln standen sich Indien und Pakistan seit 1947 gegenüber. Immer ging es um die Provinz Kaschmir im Himalaya, und jedes mal zog Pakistan den Kürzeren. Obwohl hunderte Millionen Inder und Pakistanis in schreiender Armut leben, haben sich Indien und Pakistan im Zuge dieser Rivalität unter immensen finanziellen Opfern zu Atommächten hochgerüstet, die ihre Sprengköpfe auf die Riesenstädte des Gegners gerichtet haben. Seitdem Pakistan ebenso wie Indien über die Atombombe verfügt, hat sich ein fragiles Patt auf dem Subkontinent entwickelt – man könnte auch sagen: ein brüchiger Frieden im Schatten der totalen Vernichtung.
Was die Innenpolitik betrifft, so ist Pakistan das Musterbeispiel eines gescheiterten Staates mit einem der niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen Asiens, mit einem miserablen Bildungssystem, regelmäßigen Epidemien, ausufernder Korruption und unkontrollierter Kriminalität, von der aktivsten Terroristenszene weltweit ganz zu schweigen. 96% der Pakistanis sind Moslems, aufgeteilt in die sunnitische und die schiitische Richtung, zwischen denen es regelmäßig zu blutigen Auseinandersetzungen kommt. Ich hatte mir dazu einige Kennziffern in meinem Reisetagebuch notiert und durchblätterte meine Notizen. War ich eigentlich von allen guten Geistern verlassen, freiwillig in dieses Land zu reisen?
Auf der anderen Seite gibt es kaum ein beeindruckenderes Reiseland als Pakistan. Das mag den Leser überraschen, aber es ist die Wahrheit. Am Ufer des Indus entstand in Mohenjo Daro und Harappa eine der ältesten Hochkulturen der Menschheit. Eine der fruchtbarsten Kulturlandschaften Asiens, der Punjab, bildet das Herz des Landes, und im Norden Pakistans erheben sich einige der höchsten Gebirgszüge der Welt, über die der „Karakorum Highway” nach China führt. Das größte Gräberfeld der Erde befindet sich im südpakistanischen Makli, und einige der prachtvollsten Mogulpaläste wurden in Lahore errichtet. Aber das war noch nicht alles. Unzählige Individualreisende, die Pakistan auf eigene Faust erkundet hatten, waren voll des Lobes über die Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Menschen vor Ort, die mit Mord, Totschlag und Terror nichts zu tun haben wollen. Die meisten dieser Reisenden waren übrigens lebend wieder aus Pakistan zurückgekehrt. Das war immerhin mal eine gute Nachricht.
„Vegetarian or Meat?”, fragte die Stewardess, und ich legte mein Reisetagebuch zur Seite. Tief unter uns glitzerten die Lichter von Teheran. In tiefschwarzer Nacht überflog die Maschine die iranischen Wüsten. Ein letztes Mal für lange Zeit trank ich ein Glas Wein zur Nacht und schlief, als die Maschine zum Landeanflug auf Karachi ansetzte.
Der internationale „Mohammed Jinnah Airport” war die mit Abstand größte Flugdrehscheibe des Landes und besaß einen notorisch schlechten Ruf, was seine Sicherheitsvorkehrungen betraf. Weltweit bekannt sollte er einige Jahre später werden, als die Taliban in einer konzertierten Aktion den Flughafen zu stürmen versuchten und mehrere Dutzend Menschen umbrachten, ehe sie von der Armee überwältigt werden konnten.
In dieser Nacht aber war auf dem Jinnah Airport alles ruhig. Mitternacht war längst vorüber, und knirschend setzte sich das Rollband mit den Gepäckstücken in Bewegung. Es roch nach Kerosin, und ein kaltes Licht zeichnete tiefe Falten in die übermüdeten Gesichter der Passagiere. Nach und nach leerte sich die Halle, die Gepäckstücke wurden weniger und weniger, bis das Band stoppte. Ich hatte es fast erwartet und konnte es doch nicht glauben: Mein Rucksack war nicht ausgecheckt worden und befand sich wahrscheinlich bereits auf dem Weiterflug nach Kathmandu.
Mr. Sada Saaqui, der zuständige Beamte des „Lost Baggage Departments” schnarchte hinter seinem Tresen, war aber sofort hellwach, als ich auf die Klingel drückte. Er hatte eine fleischige Nase, teigig herabhängende Wangen und gutmütige Augen. Mitfühlend hörte er sich meine Klagen an, machte mir aber wenig Hoffnung. „Ja, ja”, sagte er in abgehacktem Englisch, „unser Airport ist Champion, was die Zahl der verschwundenen Gepäckstücke betrifft, aber Looser im Hinblick auf die Wiederbeschaffung.” Trotzdem half er mir beim Ausfüllen der Suchmeldung, schüttelte mir zum Abschied die Hand und empfahl mir, in zwei Tagen noch einmal vorbeizuschauen. Sicherheitshalber hinterließ ich die Telefonnummer meines vorgebuchten Hotelzimmers in Karachi.
So trat ich nur mit Fototasche, Skizzenbuch, Zahnbürste und Walkman auf den Vorplatz des Flughafens. Sofort umfing mich die nächtliche Wärme Südasiens, eine Wärme, die in der Nacht einer molligen Decke glich und von der ich noch nicht ahnte, bis zu welchen Exzessen sie sich am Tage steigern würde. Gleich vor dem Eingang des Flughafens parkten Dutzende von Taxis, deren Fahrer bei offenen Türen schliefen. Einigen waren die Köpfe in erstaunlichen Winkeln bis unter die Achseln verrutscht, und manche Beine baumelten in somnabulen Spagats aus den Fenstern.
Ich weckte den ersten Taxifahrer in der Reihe, der sofort erwachte, seine Glieder sortierte und nach einer kurzen Preisverhandlung mein Gepäck in den Wagen packte. Er war eine jüngere und schönere Ausgabe von Mr. Sada Saadqui, mit strafferen Gesichtszügen und ohne Hängebacken, ein schöner Mensch mit wolligem schwarzem Haar und kräftigem Nacken, dem man sein Schlafdefizit nicht ansah. Erstaunlich, wie übergangslos der Pakistani vom Schlaf- in den Wachmodus wechseln kann, ging es mir durch den Kopf - ohne zu bedenken, dass dieser Prozess auch andersherum verlaufen kann. Denn kaum hatten wir den Flughafen verlassen, um in stockdunkler Nacht auf einer schnurgeraden Straße der Innenstadt von Karachi entgegenzubrausen, entschlummerte der schöne pakistanische Taxifahrer hinter seinem Lenkrad. Das Fahrzeug fuhr in einem zunächst ganz sachten, dann immer schärferen Bogen von der geraden Straße ab, was ich auf dem Rücksitz im Halbschlaf nur undeutlich registrierte, bis es mit dem rechten Vorderreifen gegen einen halbmeterhohen Bordstein