Schwarzer Freitag. Peter Schmidt

Schwarzer Freitag - Peter Schmidt


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ist also das Kind mit dem profunden Urteilsvermögen?"

      "Denk nur an den Messwein in den Kirchen, die Likörrezepte der Äbtissinnen, die Kräutergärten der frommen Brüder. Der Papst soll täglich seinen Portwein trinken. Dann noch das eine oder andere Glas Sekt, weil der Jahrestag einer Heiligsprechung gekommen ist. Es gibt immer Anlässe: Staatsempfänge, Messen, Arbeitsessen, einen Klaren gegen Magendrücken ..."

      "Mach keinen Alkoholiker aus ihm."

      "Angeblich stellt man ihm auf Reisen in jeder Kapelle eine große Karaffe Beaujolais hinter den Altar."

      "Wer sagt das? Etwa Lutz? Das Kind ist ja ein richtiger Quertreiber. Warum nicht gleich noch Messdiener, mit denen er sich in der Sakristei die Zeit vertreibt? Oder jungfräuliche Mägde, die ihm die gläubigen Bauern von den Feldern bringen?"

      "Wer weiß schon, was wirklich in seinem Kopf vorgeht. Die Schittecks verschlingen uns."

      Xaveria war eine Meisterin des Parataktischen, der Sprünge. Sie verstand es, mit solcher Eleganz und Geschmeidigkeit von einem Satzobjekt zum anderen zu springen, dass man sich unwillkürlich fragte, ob darin nicht doch, entgegen allem Anschein, eine logische Beziehung herzustellen war.

      Ich entschied mich dafür, den Ball aufzufangen. Sie hatte nur das Spiel gewechselt: Handball statt Tischtennis.

      "Eben hast du dich noch lobend über die Urteilskraft der Schitteckkinder geäußert?"

      "Das Bürschchen hat einfach Scharfblick, Paul. Ich habe gestern im Garten ein langes Gespräch mit ihm geführt. Lutz glaubt, das Magische Dreieck sei nur eine Schnapsidee seiner Mutter, weil sie immer diese Visionen hat.

      Er plädiert dafür, aus dem Weiher ein Freibad mit künstlicher Sonnenbestrahlung und Freikörperkultur zu machen. Beweist das nicht, wie gefährlich die Schittecks sind? Viele begnadete Verbrecher waren intellektuell hoch begabt: Hitler, Stalin, Napoleon ..."

      "Was sollen wir denn deiner Meinung nach gegen die Schittecks unternehmen?"

      "Stell dir vor, direkt an unserer Veranda befände sich ein stark frequentiertes Freibad. Ausgerechnet jetzt, wo die Temperaturen wegen des Treibhauseffekts in der Atmosphäre steigen und das Baden im Freien immer attraktiver wird. Dann wäre es mit unserer Ruhe vorbei."

      Xaveria richtete sich entschlossen auf.

      "Wir müssen erst mal in Erfahrung bringen, wer die Schittecks eigentlich sind. Welche Zukunftspläne sie haben. Wie lange sie bleiben wollen. Wir müssen sie ausforschen. 'Observation' nennt man so was heutzutage. Oder 'Lauschangriff'. Dann müssen wir ihren schwachen Punkt finden und sie aus der Stadt vertreiben."

      "Und wenn die Schittecks gar keinen schwachen Punkt haben?"

      "Zeig mir eine Familie ohne Schwächen, Paul. Wir rammen ihnen unsere Lanzen in die Achillesfersen."

      "Ziemlich martialischer Gedanke für jemanden, der schon mal in seiner Freizeit Volkshochschulkurse zum Thema 'Verständigung und Opferbereitschaft' abgehalten hat."

      Xaveria war nämlich beileibe nicht die gewissenlose Realistin, für die sie sich gerne ausgab. Hatte man erst einmal ihr Vertrauen gewonnen, dann entdeckte man ein völlig anderes Wesen: einen zarten, verletzlichen Menschen, dem der Raubbau an unserem Planeten schlaflose Nächte bereitete.

      "Reiner Selbstschutz. Man darf nur nicht die eigenen Interessen aus den Augen verlieren – sich niemals selbst aufgeben, wenn man sich für andere einsetzen will. War Albert Schweizer etwa keine starke Persönlichkeit?"

      6

      Ich gestehe, dass mir Xaverias Vorschlag durchaus gelegen kam. Die Schittecks hatten uns noch längst nicht alle Geheimnisse offenbart.

      Ob mir damals auch schon dämmerte, dass es ein Ende mit Schrecken sein würde, kann ich heutzutage nicht mehr sagen. Mein Gedächtnis hat etwas gelitten in den vergangenen Monaten.

      Wie brachten sie es fertig, mit solcher Rücksichtslosigkeit alle Regeln des menschlichen Zusammenlebens zu verletzen?

      Steckte vielleicht irgendeine Art von Ideologie dahinter?

      Und wer war ihr "Chefideologe"?

      Etwa Elvira, die Mutter? Oder sollte es wirklich Schittecks zahnloser alter Mund sein, der all die neuen Wahrheiten verkündete, mit denen man sich so mühelos über eine zweitausend Jahre alte Tradition menschlicher Verhaltensnormen hinwegsetzte?

      Schitteck senior machte eher den Eindruck eines biederen Kleintierzüchters auf mich.

      Ich ging ins Badezimmer, und während ich meine Hose für meine allmorgendliche Behandlung mit DDT-Pulver herabließ, warf ich einen Blick zum Haus der Schittecks.

      Am Bootssteg dümpelte der flache Lagunenkahn, auf dem der alte Schitteck mit soviel Ausdauer im hohen Uferschilf herumzustaken pflegte, die brauenlosen Glubschaugen wie ein Fisch aufs Wasser gerichtet, als halte er nach Plankton Ausschau. Es war fünf Uhr morgens. Nebelschwaden standen über dem Uferschilf.

      Das Wasser des Dr.-Clemens-Kleiberbachs aus Brookmanns wassertechnischem Kellerlabor umspülte malerisch unsere Verandastufen. Eine unnatürliche Ruhe lag über BIO-EINS. Das bleigraue Licht umschloss alles wie eine Faust. Es gab nur ein einziges Phänomen am gegenüberliegenden Ufer, das diese einförmige Lichtstimmung unterbrach: ein grüngelber Schein, der aus dem Schitteckschen Wohnzimmerturm fiel.

      Die hohen Fenster projizierten drei perspektivisch verzerrte Vierecke auf das unbewegte Wasser, und wegen des unnatürlichen Lichts hinter den Scheiben war ich sofort davon überzeugt, bei den Schittecks werde eine Messe abgehalten. Je länger ich durch das offene Fenster zum Haus hinüberstarrte und mir die Reste des DDT-Puders aus der Schambehaarung klopfte, desto deutlicher meinte ich auch den Geruch von Räucherkerzen wahrzunehmen ...

      Ich zog meinen grüngrauen Frotteebademantel an, der fast die Qualität eines Tarnanzugs hatte, und ging zum Ufer hinunter. Der Boden war sumpfig. Ich hätte lieber Schuhe statt Pantoffeln anziehen sollen, denn einer blieb nach ein paar Schritten im Schlamm stecken, und als ich ihn herauszuziehen versuchte, trieb er mit dem ablandigen Wind ins tiefere Wasser hinaus und versank ...

      Ich warf den anderen hinterher und ging barfuß weiter. Vom Haus her war monotoner Gesang zu hören – so leise, als würde er durch dicke Mauern gedämpft.

      Weil die Verandatüren abgeschlossen waren und kein Fenster aufstand, machte ich mich über die Kellerfenster her. Den frischen Schweißnähten der Gitter nach zu urteilen, hatte sich erst kürzlich jemand damit besondere Mühe gegeben. Brookmanns Haus war ein solider Backsteinbau aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, kein fragiles Gebilde aus Lehm-Knochenleim-Sägemehl-Mischung wie unsere Bungalows.

      An den Gittern hingen handtellergroße Vorhängeschlösser, ein weiterer schlagender Beweis für die Richtigkeit der alten Regel, dass Diebesgesindel sich am besten vor Einbrechern schützt. Ich versuchte den Gesang zu verstehen. Weder die Melodie noch ihr Text waren eindeutig zu identifizieren. Es klang nicht wie Kirchenmusik. Ich summte probeweise ein paar Takte mit – aber in diesem Augenblick erklang hinter mir ein Knurren.

      Es war ein glänzender schwarzer Rottweiler mit braunroten Abzeichen – größer als ein Pony. Seine Stummelrute deutete nach unten wie ein abwärts gerichteter Daumen.

      "Mach, das du wegkommst", sagte ich in einem Tonfall, der jeden verständigen Haushund sofort gewarnt hätte. "Geh mit Frauchen Gassi ..."

      Doch er machte keine Anstalten, meinem gutgemeinten Ratschlag zu folgen, sondern fletschte nur die Zähne und kam knurrend näher. Ich wich langsam zurück, bis ich an der Veranda war. Als ich meinen Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, machte er einen Satz nach vorn und fixierte mich mit drohendem Blick.

      "Braves Hundchen, Gassi, Gassi ...! Wo, verdammt noch mal, ist dein Frauchen?"

      Das hätte ich nicht sagen sollen. Vielleicht fasste Rottweiler Schitteck es ja als Beleidigung auf (ein Hund seiner Größe und Klasse konnte seine Notdurft auch allein verrichten, er


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