Ssabena - Wilde Wege zum Seelenheil. Imme Demos
hohen Tisch standen Kerze und Aschenbecher. Der Steinfußboden war derselbe wie in der Gasse. Fenster hatte der Raum keine. Der Mann winkte uns durch die nächste Tür.
Überrascht betrat ich einen Innenhof, ein Patio. Blaues Licht schimmerte auf eine Bar und drei Tische mit Holzstühlen drumherum. Palmenwedel schützten tagsüber vor der Sonne. An einem der Tische nahmen wir Platz. Der alte Mann kam mit einer Flasche Wein in der Hand, die er uns fragend unter die Nase hielt. Er sprach zwei Brocken Englisch und war sehr stolz darauf. Wir nahmen den Wein, der Alte zog sich zurück.
„Ich möchte hier für immer sein, ich will hier leben“, eröffnete ich das Gespräch.
„Wie kannst du so was nach drei Tagen sagen?“, fragte Matthew.
„Das weiß ich nicht, ich fühle etwas, das ich noch nie im Leben zuvor gefühlt habe, und es ist sehr stark. Dieser Ort zieht mich so unwahrscheinlich an, ich will hier sein, hier leben und bleiben, nirgendwo anders.“
Er hob die Augenbrauen. „Ich stimme dir zu, Jerusalem, speziell die Altstadt, ist wirklich sehr spezifisch, aber hier zu leben würde ich mir doch reichlich überlegen.“
„Das werde ich.“
Noch war es mir zu schwierig in Worte zu fassen, was ich hier eigentlich wollte. Ich wusste nicht, dass ich auf der Suche war und was ich überhaupt suchte.
Die folgenden Tage lief ich von morgens bis abends kreuz und quer durch die Altstadt, blieb hier stehen, dort sitzen, unterhielt mich mit den Soldaten und horchte dabei in mich hinein, ob ich wirklich hier wohnen möchte. Alles in mir sagte Ja, ich vernahm kein einziges Nein.
Nach einer Woche flog ich wieder nach Hause.
Ich ging zu meinen Bands und in die Studios und verkündete allen: „Ich bin nur noch bis zum Sommer hier, danach ziehe ich nach Israel!“
Sie waren erstaunt, bewunderten meinen Mut und freuten sich mit mir.
Ein halbes Jahr nahm ich mir Zeit, mich zu verabschieden – von allem.
Eine Band engagierte mich als Keyboarderin und Sängerin für TV-Auftritte. Ich bekam den ganzen Ablauf hinter den Kulissen mit und stellte fest, auch beim Fernsehen wird alles nur halb so heiß gegessen wie gekocht. Traf viele berühmte Leute. Sie waren genauso nett wie die Leute vor den Bildschirmen. Letztlich tat jeder nur seine Arbeit.
Ob ich nicht lieber in Deutschland bleiben möchte und Karriere beim Fernsehen machen?
Ich brauchte nicht lange zu überlegen. Nein, so aufregend ist das auch nicht. Ich wollte was anderes, ich wollte nach Israel, das Leben live erleben.
Doch ich überprüfte mich auch weiterhin. Es tauchten Fragen auf. Wo will ich wohnen? Wovon will ich leben? Will ich meine vermeintliche Sicherheit in Deutschland tatsächlich aufgeben für etwas absolut Unsicheres?
Ich schrieb einen Brief an die israelische Botschaft in Bonn, erkundigte mich, ob es mir als Europäerin gestattet sei, in Israel eine Wohnung zu mieten, und ob ich dort arbeiten dürfe.
Die Antwort des Botschafters war mir nicht aufschlussreich genug. So kam ich zu der Überlegung, noch einmal nach Israel zu fliegen, um einen Teil der Fragen zu klären.
Im April saß ich wieder im Flieger.
In Tel Aviv fragte ich mich durch zu einer Musikagentur. Eine Sekretärin wies mich in einen Raum, in dem ein Mann hinter einem riesigen Schreibtisch voller Papierkram telefonierte, seine weißen Hemdsärmel hochgekrempelt. Ich hörte zu, wie er ins Telefon sprach.
„Ken.“ Pause. „Ken.“ Pause. „Ken ken.“ Pause.
Ich überlegte, was das wohl heißen mochte.
„Ken ken“, sagte er jetzt wieder.
Es klang so, wie wir Deutschen am Telefon ja sagen oder jaja. Ist ja ein komisches Ja, so hart am Anfang des Wortes und so kurz am Ende. Danach sprach er in ganzen Sätzen. Unmöglich, auch nur ein einziges Wort vom nächsten zu unterscheiden, wo eins anfängt, und wo es aufhört. Ein Redeschwall mit vielen kehligen ch-Lauten, sehr hart im Sound. Diese Sprache werde ich lernen. Durch einen Geistesblitz erkannte ich, Sprache lerne ich wie Musik, Bedeutung von Wörtern merke ich mir wie Akkorde, als Gefühl, in Form von hell oder dunkel, auch richtungsweisend, gebend oder nehmend.
Nachdem er aufgelegt hatte, stellte er sich höflich vor und fragte auf israelisch eingefärbtem Englisch, was ich wolle, er sei der Manager.
„Ich bin Musikerin, Gesang und Piano. Ich möchte in Israel leben, am liebsten in Jerusalem, welche Arbeitsmöglichkeiten gibt es hier für mich?“
„Ich werde dich bekannt machen mit Orit. Sie hat beim letzten Grand Prix mitgemacht. Sie wird dir weiterhelfen können. Morgen kommt sie hierher.“ Zuversichtlich nickte er.
Am folgenden Tag traf ich Orit, eine Frau mit Klasse. Auf Anhieb verstanden wir uns wie zwei Schwestern. Sie war ungefähr so alt wie ich und kam gerade vom Jazz-College in Boston. Orit nahm mich unter ihre Fittiche.
„Ich weiß, was du willst, und ich weiß, was du kannst“, sagte sie bestimmt, „aber das geht nicht in Jerusalem. Nach Jerusalem kommen nur Touristen in Reisegruppen, um sich die biblischen Stätten anzusehen. Die gehen abends nach ihrer Rundreise in ihr Hotel. Maximum spielt noch ein Barpianist, und dann ist Feierabend. Da ist nicht genug Arbeit für dich. Du musst nach Elat gehen. Kennst du Elat?“
„Nein, wo liegt das?“
„Am südlichsten Punkt Israels, unten am Roten Meer. Ein süßer, kleiner Touristenort, der das ganze Jahr über Saison hat. In der Wüste ist es immer warm. Selbst die Israelis verbringen dort ihren Urlaub. Da ist eine Menge los, viele Hotels, Nightclubs, Bars, Diskotheken, und überall wird Live-Musik gemacht. Das ist das Richtige für dich. Es gibt immer Arbeit. Ich schreibe dir die Telefonnummer von Raffael auf. Er ist Bandleader der führenden Band am Ort und hat immer gut zu tun. Mein Freund Aviel spielt bei ihm den Bass. Ich werde ihn anrufen, um dich anzukündigen. Wann fährst du hin?“
„Gleich morgen“, entgegnete ich ohne Zögern.
Ich schlief noch eine Nacht in der Jugendherberge und machte mich am nächsten Morgen auf den Weg nach Elat, ungeheuer gespannt auf die Wüste.
Nach zwei Stunden Busfahrt wurde die Landschaft zunehmend karger, dezimierte sich auf vereinzelte Sträucher. Bald war kein einziges Grün mehr zu sehen. Der Negev ist keine Sandwüste wie die Sahara, sondern Steinwüste. Am Rande des breiten Tales, welches wir durchquerten, türmte sich zu beiden Seiten hohes Felsgestein auf. Gebannt starrte ich aus dem Fenster.
Mitten im Nichts hielt der Bus an einer einsamen Zapfsäule und einem Restaurant. Alle Reisenden stiegen aus, kauften sich Getränke, gingen zur Toilette. Sie wussten, dies ist der einzige Stopp auf der gesamten Strecke. Als ich aus dem Bus trat, war ich überwältigt von dem heißen Wüstenwind, der wie ein überdimensionaler Fön am Horizont heiße Luft über das Land pustete. Wie konnte Wind so heiß sein? Phänomenal, unfassbar. Was für ein Gefühl! Ich schloss die Augen und verharrte, versuchte dieses Gefühl für immer in mir zu verankern. Oder war es umgekehrt? War es schon immer in mir verankert gewesen und ich erinnerte es erst jetzt? Der heiße Wüstenwind kam mir plötzlich so bekannt vor, so vertraut. Ein uriges Gefühl tat sich in mir auf, ähnlich wie das, was ich wahrnahm, als ich dem Alligator gegenüber stand. Das kam aus einer anderen Welt oder aus einem anderen Leben.
Nach zwanzig Minuten ging es weiter auf der einzigen Straße nach Süden. Kaum Verkehr. Ich sah die ersten Beduinen meines Lebens, ihre offene Behausung. Schwarzes Zelttuch als Dach und Wand, um Sonne und Wind abzuhalten. Davor standen zwei von oben bis unten in Schwarz gehüllte Frauen und drei Männer in Braun mit Turbanen auf ihren Köpfen. Einige spärlich bekleidete Kinder liefen umher. Nicht weit vom Zelt graste eine Herde Ziegen. Ich versetzte mich in ihre Lebenssituation. Wie lebt es sich wohl hier? Von morgens bis abends dem Wüstenwind ausgesetzt zu sein. Gehen die Kinder in eine Schule? Was lernen sie? Was wissen sie? Bestimmt nicht das, was wir wissen, aber garantiert eine Menge, von dem wir überhaupt nichts wissen. Sie müssten eigentlich wissen, was das Leben ist,