Die Schiffbrüchigen der JONATHAN. Jules Verne

Die Schiffbrüchigen der JONATHAN - Jules Verne


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diesem Lande, das keine Autorität anerkannte, ein Recht gehabt hätte, ihn auszufragen? Er lebte ja nicht in einem gesetzlich geordneten Staate, wo die Polizei der Vergangenheit jedes einzelnen nachforscht, wo es unmöglich ist, längere Zeit unerkannt zu bleiben. Hier war niemand mit irgendwelchen Machtvollkommenheiten versehen, hier lebte man außerhalb des Bannkreises feststehender Gebräuche und Gesetze, kleinlicher Vorschriften, hier war das Land der Freiheit!

       Während der ersten zwei Jahre seiner Anwesenheit auf dem Feuerlande hatte der Kaw-djer keinen bestimmten Ort zum bleibenden Wohnsitze gewählt. Er war bald hier, bald dort zu finden, durchkreuzte die ganze Gegend in abenteuerlichen Fahrten und schloss Freundschaft mit den Eingebornen; niemals aber berührte er die wenigen von Ansiedlern der weißen Rasse bewohnten Niederlassungen. Wenn er jemals mit einem der Schiffe in direkte Verbindung trat, die irgendeinen Punkt des Archipels anliefen, so geschah dies nur, wenn er für einen Feuerländer den Zwischenhändler abgab oder sich mit Munition und Arzneien neu versehen musste. Diese Einkäufe bezahlte er entweder mit Tauschobjekten oder in spanischem oder englischem Gelde, mit dem er reichlich versehen zu sein schien.

      Sonst war er auf steter Wanderung von Stamm zu Stamm, von Lagerplatz zu Lagerplatz begriffen. Er lebte, wie die Eingebornen, vom Ertrage der Jagd und des Fischfanges; hielt sich bald bei den Bewohnern der Küstengegenden, bald bei den Völkerschaften im Inneren des Landes auf, wohnte in ihren Zelten, pflegte und heilte die Kranken, unterstützte die Witwen und Waisen und war bald der Gegenstand dankbarster Verehrung dieser armen Leute, die ihm den glorreichen Namen beilegten, unter dem er von einem Ende des Archipels zum anderen bekannt und geliebt war.

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      Es konnte kein Zweifel darüber herrschen, das der Kaw-djer ein sehr unterrichteter, gebildeter Mann war, besonders in den Heilswissenschaften musste er eingehende Studien gemacht haben. Er sprach auch geläufig mehrere Sprachen: Franzosen, Engländer, Deutsche, Spanier und Norweger hätten ihn getrost für einen Sohn ihres Landes ansehen können. Diesen polyglotten Kenntnissen hatte diese rätselhafte Persönlichkeit natürlich sehr bald die Landessprache hinzugefügt, den yacanischen Dialekt. Dieses Idiom, das im ganzen Magalhães-Archipel gesprochen wird und das auch die Missionare zu ihren Bibelübersetzungen benützen, beherrschte er fließend.

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       Der Magalhães-Archipel, wo der Kaw-djer sein Leben zuzubringen gedachte, ist durchaus keine unbewohnbare Gegend, wie man gewöhnlich annimmt, wenn man es nach dem Rufe beurteilt, den ihm die Berichte der ersten Erforscher geschaffen haben (im Band 133e dieser maritimen gelben Buchreihe berichtet Georg Forster über die Erdumsegelung des James Cook und den Aufenthalt in Feuerland). Allerdings wäre es übertrieben, der Gegend den Namen eines irdischen Paradieses beizulegen und es wäre lächerlich, leugnen zu wollen, dass sein äußerstes Vorgebirge, das Kap Hoorn, von den fürchterlichsten Stürmen heimgesucht wird, die an Heftigkeit und häufigem Auftreten ihresgleichen suchen. Und doch gibt es viele Länder, selbst in Europa, die eine zahlreiche Bevölkerung zu ernähren haben und wo die Existenzbedingungen noch härter sind als hier. Wenn auch das Klima naturgemäß ein sehr feuchtes ist, so verdankt anderseits der Archipel den umgebenden Wassern eine sehr geregelte, gleichmäßige Temperatur, die eisigen Winter des nördlichen Russlands, Schwedens und Norwegens sind ihm unbekannt. Die mittlere Temperatur fällt im Winter nie unter 5 Grad Celsius und steigt im Sommer zur Zeit der größten Hitze nie über 15 Grad.

      Trotz der gänzlich fehlenden meteorologischen Beobachtungen genügt der bloße Anblick dieser Inseln, um alle Äußerungen eines übertriebenen Pessimismus zum Schweigen zu bringen. Die Vegetation erreicht hier eine Üppigkeit, die ihr in der kalten Zone versagt sein würde. Die herrlichsten Weideplätze von ungeheurer Ausdehnung finden sich hier, die zahllosen Herden Nahrung in Überfluss bieten könnten, und endlose Waldungen, in denen die Buche, die Birke, der Sauerdorn und der Zimtbaum herrlich gedeihen.

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      Gewiss würden sich auch unsere Gemüsepflanzen und Hülsenfrüchte leicht akklimatisieren; selbst die Getreidearten, der Weizen mitgerechnet, könnten hier ein leichtes Fortkommen finden.

      Unbewohnbar ist dieser Landstrich nicht, aber fast unbewohnt. Seine Bevölkerung besteht in einer kleinen Anzahl von Indianern, welche man unter dem Namen „Feuerländer“ oder „Yacanas“ kennt, wirklichen Wilden, welche auf der allertiefsten Stufe der menschlichen Gesellschaft stehen und in diesen einsamen Ebenen ein elendes Wanderleben führen. –

      Lange vor dem Zeitpunkt, mit dem diese Geschichte einsetzt, hatte Chile an der Magalhães-Straße die Station Punta-Arenas gegründet, dabei wurde vorübergehend seine Aufmerksamkeit auf jene unbekannten Gegenden gelenkt. Aber weiter ging das Interesse nicht und trotz des Aufblühens der neugegründeten Niederlassung wurde kein Versuch gemacht, auf dem Magalhães-Archipel festen Fuß zu fassen.

      Welche Kette von Ereignissen hatte wohl den Kaw-djer in diese der Mehrzahl der Menschen unbekannte Region geführt? Auch das war Geheimnis; aber dieses Mysterium war doch vielleicht zu ergründen.

      Der stolze Ruf, der von der Höhe der Klippe wie eine Herausforderung des Himmels, ein leidenschaftlicher Dank an die herrliche, freie Natur erklungen war, ließ manches erraten.

       „Kein Gott! Kein Gebieter!“ So lautet der Wahlspruch der Anarchisten. Die Vermutung musste naheliegen, dass der Kaw-djer dieser Verbindung angehörte, die sich aus den heteroklitesten Elementen zusammensetzt, aus einer bunt untereinander gewürfelten Menge von Verbrechern und Dunkelmännern besteht und nur wenige erleuchtete Köpfe zählt. Jene sind neid- und hasserfüllte Egoisten, immer zu Raub und Mord und jeder Gewalttat bereit; diese Idealisten, Dichter, welche von einer neuen Menschheit träumen, die über den Trümmern der bestehenden Ordnung erstehen soll; einer Menschheit, der alle Schlechtigkeit fremd ist und die zum Leben erweckt wird nach Aufheben jener Gesetzesparagraphen, die der Menschengeist erfunden hat, um das Böse in möglichst enge Grenzen zu bannen.

      Welcher dieser beiden Klassen gehörte der Kaw-djer an? War er einer jener verbitterten Freiheitsdurstigen, jener Apologeten der schnellen Tat? Vielleicht hatte er für seine Überzeugung Propaganda zu machen gesucht, war aus allen zivilisierten Staaten ausgewiesen worden und musste froh sein, in diesem versteckten Winkel der bewohnten Erde ein Unterkommen zu finden!?

      Eine derartige Voraussetzung wäre in direktem Widerspruch mit seiner Lebensführung gestanden, die, seitdem er die Inseln bewohnte, nur Züge von Güte und Menschenfreundlichkeit aufzuweisen hatte. Wer so oft und ohne Bedenken sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um einige armselige menschliche Existenzen vom Tode zu erretten, konnte sich unmöglich mit Gedanken der Zerstörung, der Vernichtung getragen haben. Möge er Anarchist sein! Und er war es! Hatte ihn sein Ausruf doch verraten! Aber dann gehörte er der Kategorie der Träumer an und nicht den mit Messern und Bomben hantierenden Mitgliedern.

       War dem so, dann musste sein Exil ein freiwilliges sein, der logische Ausgang eines in seinem Inneren abgespielten Dramas und nicht eine durch einen fremden Willen diktierte Strafe. Durch seine Träume verblendet, waren ihm die ehernen Gesetze, die im zivilisierten Weltall den Menschen von der Wiege bis zum Grabe wie an einem Zügel führen, unleidlich, unerträglich geworden und es kam ein Augenblick, wo ihm die Luft zum Atmen erstickend dünkte in diesem Urwald von unzähligen Vorschriften, durch welche sich die Staatsbürger um den Preis ihrer Unabhängigkeit einen gewissen Wohlstand und Sicherheit erkaufen. Seine Charakteranlage verbot ihm, seine freiheitlichen Ideen, seinen Widerwillen gegen die bestehenden Einrichtungen auf dem Wege der Gewalt zu verbreiten, somit blieb ihm kein anderer Weg offen, als zu fliehen und auf die Suche nach einem Lande zu gehen, in dem niemand Sklavenketten trug, und so war er schließlich im Magalhães-Archipel gelandet, der einzigen Gegend auf der ganzen Erdoberfläche, wo noch unbeschränkte Freiheit herrschte.

      Während der ersten Zeit seines Aufenthaltes daselbst, zwei volle Jahre hindurch, verließ der Kaw-djer niemals die große Insel, wo er sich ausgeschifft hatte.

       Das Vertrauen, das er den Eingebornen einzuflößen wusste, das Ansehen, das er sich bei allen Stämmen erworben hatte, wurde immer


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