Die Schiffbrüchigen der JONATHAN. Jules Verne

Die Schiffbrüchigen der JONATHAN - Jules Verne


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„Am Darwin-Sund, an der äußersten Spitze der Stewart-Insel; dort kreuzten wir einen Avisodampfer, der uns entgegenkam.“

      – „Wohin fuhr er?“

      – „Nach dem Feuerland. Auf dem Heimweg sah ich ihn wieder; er hatte in einer Bucht Anker geworfen und schiffte Soldaten aus.“

      – „Soldaten? rief der Kaw-djer im höchsten Erstaunen. Welcher Nation gehören sie an?“

      – „Sie sind aus Chile und Argentinien.“

      – „Was machen sie?“

      – „Nach ihrer Aussage waren sie zum Schutze zweier Kommissäre beordert, welche das Feuerland und die Nachbarinseln durchforschen sollen.“

      – „Woher kommen die Kommissäre?“

      – „Von Punta-Arenas; der Gouverneur hat ihnen das Avisoschiff zur Verfügung gestellt.“

      Der Kaw-djer fragte nicht weiter; er blieb nachdenklich. Was bedeutete die Ankunft der Kommissäre? Was war der eigentliche Zweck ihrer Anwesenheit im Magalhães-Archipel. Handelte es sich um das oro- oder hydrographische Studium des Landes oder war das Ziel ihrer Tätigkeit die Feststellung der Küstenlinie, eine genaue Aufnahme der Meeresstraßen im Interesse der Schifffahrt?

      Der Kaw-djer war tief in Gedanken versunken. Er konnte sich eines unbestimmten Gefühls der Unruhe nicht erwehren. Vielleicht sollte sich diese Rekognoszierung auf die ganze Inselgruppe erstrecken; möglicherweise würde der Avisodampfer auch in den Gewässern der Neuen Insel Anker werfen!

       Was ihn veranlasste, der Sache eine gewisse Wichtigkeit beizumessen, war der Umstand, dass die Expedition durch die Regierungen von Chile und Argentinien ausgesendet worden war. Herrschte denn Eintracht zwischen den beiden Republiken, welche bis zu diesem Tage die drohende Streitfrage nicht beigelegt hatten: welchem Staate diese Länder einer weltentlegenen Region, nach denen beide Verlangen trugen, deren Besitz sie – mit Unrecht – beanspruchten, zufallen sollten.

      Während dieser kurzen Fragen und Antworten hatte der Kaw-djer die Höhe des Hügels erreicht, an dessem Fuße das Häuschen erbaut war.

      Von hier aus hatte er einen weiten Ausblick auf das Meer, und unwillkürlich schweiften seine Blicke nach Süden, wo die letzten Gipfel des amerikanischen Kontinentes aus dem Wasser ragten und die Inselgruppe des Kap Hoorn bildeten. Soll er dorthin gehen, um ein Stück freies Land zu finden? ... Soll er noch weiter wandern? ... Im Geiste übersetzte er den Polarkreis und verlor sich in den schneeigen Regionen der antarktischen Welt, die, von den Schleiern eines undurchdringlichen Geheimnisses verhüllt, auch dem kühnsten Forscher ein versagendes „Nein“ entgegenruft ...

      Groß wäre der Schmerz des Kaw-djer gewesen, hätte er geahnt, wie gerechtfertigt seine schlimmsten Befürchtungen waren!

       Der „GRAZIAS A DIOS“, der Avisodampfer der chilenischen Regierung, führte in der Tat zwei Kommissäre an Bord: Herrn Idiaste aus Chile und Herrn Herrera als Vertreter der Republik Argentinien, deren jeder von seiner Regierung beauftragt worden war, die Teilung des Magalhães-Archipels vorzubereiten, der Zankapfel sollte halbiert werden und jeder Staat wollte sich mit einem Stück des Landes begnügen, dessen ganzen Besitz er angestrebt hatte.

      Diese Streitfrage hatte schon seit einer Reihe von Jahren zu endlosen Auseinandersetzungen Anlass gegeben, und es war bis jetzt nicht gelungen, einen beide Teile befriedigenden Ausgleich zu finden. Solch eine gespannte Situation konnte aber bei längerer Dauer leicht zu ernsteren Konflikten führen. Vom kommerziellen Standpunkt sowohl als auch vom politischen war es ein Gebot der Notwendigkeit, die Zwistigkeiten beizulegen, umso mehr, als das alles verschlingende England in bedrohlicher Nähe war. Von den Falklandinseln aus mochte es nicht allzu schwer sein, die Inseln des Magalhães-Archipels in inniger Umarmung an sich zu ziehen! Die britischen Küstenfahrer waren gar häufig in diesen Gewässern zu sehen und die englischen Missionare taten ihr Möglichstes, um bei den Feuerländern immer mehr Macht und Ansehen zu erringen. Es war sehr zu fürchten, dass eines schönen Tages an irgendeinem Punkte der Insel die britische Flagge gehisst wurde und nichts ist schwerer zu Fall zu bringen als das Banner Großbritanniens. Es war höchste Zeit, diesem bedenklichen Zustande ein Ende zu machen!

       Nachdem die beiden Herren, Idiaste und Herrera, sich ihres Auftrages entledigt, die Kundschaftsreise beendet hatten, kehrten sie in ihre Heimat zurück; der eine nach Santiago, der andere nach Buenos-Aires. Einen Monat später, am 17. Januar 1881, wurde in der letztgenannten Stadt ein Teilungsvertrag von beiden Republiken unterzeichnet, welcher das bisher ungelöste Problem, das beiderseits so viel Bitterkeit wachgerufen hatte, zu einem befriedigenden Abschluss brachte.

      Die Vertragsbedingungen bestimmten, dass Patagonien von der Republik Argentinien annektiert werden sollte, mit Ausnahme des Territoriums, das durch den 52. Breitengrad und den 70. Meridian westlich von Greenwich begrenzt ist; dieses wurde Chile zugesprochen. Dafür verzichtete letzteres auf die Staaten-Insel und auf den östlich des 68. Längengrades gelegenen Teil des Feuerlandes. Alle anderen Inseln gehörten ausnahmslos zu Chile.

      Dieser Ausgleich, der die Rechte der beiden Staaten feststellte, hatte den Magalhães-Archipel seiner Unabhängigkeit beraubt. Welche Gefühle werden das stolze Herz des Kaw-djer bewegen, wenn sein Fuß nicht mehr auf freier Erde wandern kann, sondern chilenischen Boden betreten muss?

      Am 25. Februar gelangte der Vertrag zur Kenntnis auf der Neuen Insel; Karroly hatte die Botschaft mitgebracht, als er von einer Lotsenfahrt zurückkam.

      Der Kaw-djer konnte eine Bewegung der Entrüstung nicht zurückhalten; er sprach kein Wort, aber in seinen Augen flammte es zornig auf und grimmiger Hass war in dem Blicke zu lesen, den er nach Norden richtete, während seine geballte Faust sich drohend erhob.

       Unfähig, den inneren Aufruhr zu dämpfen und seiner Bewegung Herr zu werden, schritt er unruhig auf und ab; dabei war ihm, als entschwände der Boden unter seinen Tritten, als böte er ihm nicht mehr die frühere feste Stütze.

      Endlich war es ihm gelungen, den Sturm der Leidenschaften zu beherrschen, der in seinem Inneren tobte; seine eben noch ingrimmig verzerrten Züge glätteten sich und nahmen den ihnen gewöhnlichen Ausdruck gleichgültiger Kälte an. Er trat auf Karroly zu und fragte in ruhigem Tone:

      „Ist die Nachricht sicher wahr?“

      – „Ja“, antwortete der Indianer. „Ich habe sie in Punta-Arenas vernommen. Zwei Flaggen sollen am Eingange der Meerenge vor dem Feuerland gehisst sein; die argentinische am Kap Espiritu Santo und die Flagge von Chile am Kap Orange.“

      – „Und alle Inseln südlich vom Beagle-Kanal“, erkundigte sich der Kaw-djer, „gehören jetzt zu Chile?“

      – „Alle.“

      – „Auch die Neue Insel!“

      – „Ja.“

      – „Es musste wohl so kommen“, sagte der Kaw-djer leise und seine Stimme zitterte unter der heftigen inneren Erregung. Dann eilte er dem Hause zu und schloss sich in sein Gemach ein.

      Wer war eigentlich dieser Mann? Welche zwingenden Gründe mochten ihn veranlasst haben, den einen oder anderen Kontinent zu verlassen und sich in der Einsamkeit des Magalhães-Archipels lebendig zu begraben? Warum verachtete er die gesamte Menschheit und warum widmete er seine ganze Lebenskraft diesen Feuerländern, verschwendete er an die wenigen Stämme armer Eingeborner die reichen Schätze seines aufopferungsfähigen Herzens?

       Der erste dunkle Punkt wird durch das Abwickeln jener Ereignisse erhellt werden, die den Inhalt dieser Erzählung bilden sollen. Die anderen Fragen finden ihre Erklärung, wenn man das Vorleben des Kaw-djer betrachtet.

      Er war ein Mann von tiefem Wissen und hatte sich mit gleichem Ernste und gleicher Gründlichkeit sowohl auf sozialpolitische als auch naturwissenschaftliche Studien geworfen; er war ein Mann der Tat, voll Kraft und Ausdauer; aber – wie viele andere Gelehrte – verfiel er in den doppelten großen Fehler: Grundsätze für unfehlbar zu halten und als unumstößlich sicher aufzustellen, die schließlich nur ein Anrecht auf die Bezeichnung „Hypothese“ hatten, und diese Grundsätze in die Tat umwandeln,


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