Die Schiffbrüchigen der JONATHAN. Jules Verne

Die Schiffbrüchigen der JONATHAN - Jules Verne


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       Der Sozialismus, dessen Bestreben kein geringeres Ziel ins Auge fasst als eine gründliche Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft, der bestehenden Zustände, ist keine Erfindung der allerneuesten Zeit. Nach einer bedeutenden Anzahl im Dunkel der Vergangenheit verschwindender Namen tauchen Saint-Simon, Fourrier, Proudhon und andere als Vorläufer des Kollektivismus auf. Andere, einer neuen Epoche angehörende Ideologen wie Lassalle und Karl Marx, haben die alten Ideen wieder aufgegriffen, sie mehr oder weniger abgeändert und schärfer begrenzt; als Basis aber und Ausgangspunkte aller Operationen wurde eine Reihe hochtönender Schlagwörter aufgestellt, wie: Sozialisation aller Erzeugnisse, Abschaffung des Kapitals, Vernichtung der Konkurrenz, Substitution des persönlichen zugunsten des gemeinsamen Besitzes.

      Keiner von ihnen rechnet aber mit den Notwendigkeiten und Zufälligkeiten des Lebens. Ihre Lehre verlangt gebieterisch die augenblickliche und durchgreifende Ausführung. Sie fordern allgemeine Besitzentäußerung und universellen Kommunismus.

      Möge man diese Anschauung loben oder tadeln, eines muss man anerkennen: Sie ist kühn! Aber in noch höherem Grade verdient diese Bezeichnung – die Theorie der Anarchisten.

      Diese verwerfen vor allem die tyrannischen Bestimmungen, Statuten, die die Verwaltung und Leitung eines kollektivistischen Gesellschaftslebens als Gebot der Notwendigkeit vorschreiben muss; sie sanktionieren nur den absoluten, ungeschmälerten, unantastbaren Individualismus. Ihr Streben ist auf die Abschaffung jeder Autorität, die Zerstörung aller gesellschaftlichen Bande gerichtet.

       Dieser letzterwähnten Menschenklasse gehörte der Kaw-djer an. Seine wilde, ungezügelte und unversöhnliche Seele war unfähig, sich einem anderen Willen zu beugen, die Fesseln des Gehorsams zu tragen und bäumte sich gegen den Zwang der Gesetze auf, dieser Vorschriften, durch welche man die gegenseitigen Beziehungen der Menschen zu regeln und zu sichern versucht und die ja unleugbar mancherlei Unvollkommenheiten aufzuweisen haben. Der Kaw-djer war zwar niemals in den Scharen derjenigen anzutreffen gewesen, die in rücksichtsloser Heftigkeit ihre Überzeugung propagieren wollten; weder in Frankreich noch in Deutschland, England oder den Vereinigten Staaten war er Landes verwiesen worden; aber die angebliche Zivilisation dieser Länder hatte ihn mit tiefem Abscheu erfüllt und nur der eine Wunsch fand in seiner Seele Raum: um jeden Preis die Last einer jeden Autorität von sich abzuschütteln; und nun machte er sich auf die Suche nach einem Fleckchen Erde, wo es dem Menschen noch vergönnt war, in vollkommener Unabhängigkeit zu leben.

      Er glaubte den gesuchten Ort inmitten dieses entlegenen Archipels gefunden zu haben, an der Grenze der bewohnten Welt. Das erträumte Glück schrankenloser Freiheit, er hoffte es an der äußersten Spitze Südamerikas, im Magalhães-Archipel, zu finden!

      Aber durch den zwischen Chile und der Republik Argentinien unterzeichneten Vertrag verlor auch diese Region die Unabhängigkeit, deren sie sich bis jetzt erfreut hatte: alles Territorium, das südlich des Beagle-Kanales lag, sollte den Statuten des Vertrages zufolge die chilenische Herrschaft anerkennen; kein Ort des Archipels konnte sich der Autorität des Gouverneurs, welcher in Punta-Arenas seine Residenz aufgeschlagen hatte, entziehen, auch nicht die Neue Insel, auf der der Kaw-djer nach langem Umherirren ein stilles Asyl gefunden hatte.

      Es war wohl ein harter Schlag für ihn: So weit war er geflohen, nach so vielen Mühen und Anstrengungen hatte er sich ein Heim erkämpft, mit einer mehr als einfachen Lebensführung zufriedengegeben – und nun dieses Resultat!

       Der Kaw-djer brauchte lange Zeit, um sein inneres Gleichgewicht wieder zu erlangen; die Wirkung der letzten Ereignisse auf ihn war mit dem Blitzstrahl zu vergleichen, der den in voller Kraft dastehenden Baum ins innerste Mark trifft und bis in die zartesten Wurzelfasern hinein erbeben macht. Seine Gedanken suchten die Zukunft, eine Zukunft, die ihm für seine Ruhe und Sicherheit nicht Gewähr leisten konnte. Beamte würden in der Gegend erscheinen und ihn auszuforschen suchen. Man wusste bereits, dass er diese Insel zu seinem Aufenthaltsorte erwählt hatte; es war ihm auch nicht unbekannt, dass zu öfteren Malen schon seine Gegenwart – die eines Fremden – auf dem Magalhães-Archipel, seine Beziehungen zu den Eingebornen, das Ansehen, in dem er bei den Wilden stand, der Regierung zu ernsten Besorgnissen Grund gegeben hatte. Der Gouverneur von Chile hatte versucht, ihn zum Sprechen zu bewegen, seine Herkunft, seinen Namen, seine Absichten in Erfahrung zu bringen ... Nun würde das alte Spiel wieder anheben; man würde seinem Leben, seinen Gewohnheiten nachgehen, ihn vielleicht zwingen, das Inkognito zu lüften, an dem er unter allen Umständen festhalten wollte. –

      Einige Tage waren verflossen. Der Kaw-djer hatte kein Wort mehr fallen lassen über den Wechsel der Verhältnisse, die der Teilungsvertrag mit sich gebracht hatte, aber er war finster in sich gekehrt und verschlossener als früher. Was grübelte er? Dachte er daran, die Neue Insel auf immer zu verlassen, sich von seinem treuen Indianer, dem Knaben, für den er eine so innige Zuneigung empfand, zu trennen?

       Wohin sollte er denn gehen? Wo war jener Winkel der Erde, wo er seine Unabhängigkeit wiederfand, ohne die er nicht leben zu können glaubte? Wenn er auch bis zu den allerletzten Felsblöcken des Archipels zurückwich, auf das Inselchen, welches das Kap Hoorn bildete, würde er sich dadurch der Autorität Chiles entziehen können?

      Der Monat März war inzwischen herangekommen. Die schöne Jahreszeit dauerte noch einen Monat; gewöhnlich wurde sie vom Kaw-djer dazu benützt, allen Lagerplätzen der Feuerländer einen Besuch abzustatten, denn im Winter waren Reisen zu Wasser ein Ding der Unmöglichkeit. Diesmal aber traf er keinerlei Vorbereitungen, die Schaluppe instand zu setzen. Die „WEL-KIEJ“ blieb ganz abgetakelt ruhig in ihrem geschützten Hafenplatz liegen. Am Nachmittag des 7. März sagte der Kaw-djer plötzlich zu Karroly:

      „Halte für die ersten Morgenstunden die Schaluppe segelbereit!“

      – „Soll es für eine mehrtägige Reise sein?“

      – „Ja.“

      Hatte sich der Kaw-djer dennoch zu seiner gewöhnlichen Rundfahrt zu den Stämmen der Feuerländer entschlossen? Wollte er doch wieder dieses halb chilenisch, halb argentinisch gewordene Feuerland betreten? ...

      „Soll uns Halg begleiten?“ fragte Karroly.

      – „Ja.“

      – „Und der Hund?“

      – „Zol soll auch mitkommen!“

      Beim Morgengrauen war die „WEL-KIEJ“ reisefertig. Es herrschte Ostwind. Eine heftige Brandung peitschte die Klippen am Fuße des Hügels und das offene Meer im Norden warf hohe Wellen.

       Wäre es die Absicht des Kaw-djer gewesen, seinen Kurs auf das Feuerland zu richten, dann hätte die Schaluppe eine sehr böse Fahrt gehabt, denn die Heftigkeit der Brise wuchs mit dem höheren Sonnenstand. Aber nein!

      Nachdem die Neue Insel umschifft war, befahl der Kaw-djer, auf Navarin zuzusteuern, deren Doppelgipfel sich in verschwommenen Umrissen aus den westlichen Morgennebeln erhoben. Es ist dies eine der mittelgroßen Inseln des Magalhães-Archipels, an deren Südspitze die „WEL-KIEJ“ bei Sonnenuntergang haltmachte, um in einer geschützten kleinen Bucht mit steil abfallenden Ufern die Nacht zu verbringen.

      Am nächsten Morgen durchschnitt das Boot die Bucht in schiefer Richtung und suchte sich am Abend einen sicheren Ankerplatz nahe der Insel Wollaston.

      Das Wetter verschlechterte sich, der Wind blies immer kräftiger und sprang nach Nordost um, dichte Wolken häuften sich am Horizont: Der Ausbruch des Ungewitters konnte nicht mehr ferne sein. Die Befehle des Kaw-djer lauteten auf Beibehaltung der Südrichtung. Nun galt es, mit Umsicht jene Wasserstraßen zu wählen, wo das Meer weniger aufgeregt tobte. Dies tat Karroly, indem er beim Verlassen der Insel Wollaston deren Ostseite entlang fuhr und dann in den Kanal einbog, der die Inseln Hermite und Herschel trennt.

      Welchem Ziele steuerte der Kaw-djer zu? Wenn er den letzten Ausläufer des Festlandes, das Kap Hoorn, erreicht und vor sich den unendlichen Ozean haben wird – was wird er dann tun? ...

       Am 15. März, nachmittags, erreichte die Schaluppe glücklich die äußerste Spitze dieser Inselwelt, nachdem sie harte und gefährliche Kämpfe mit dem empörten Elemente tapfer ausgehalten hatte. Der Kaw-djer sprang sogleich ans Land. Ohne


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