Kyla – Kriegerin der grünen Wasser. Regina Raaf
Sie seufzte, holte eine kleine Flasche hervor und deutete auf einen großen, flachen Stein.
»Setz dich da drauf und lass mich deine Wunden sehen. Diese Essenz wird helfen, sie richtig zu reinigen und die Heilung zu beschleunigen. Anschließend kaust du diese Beeren. Sie helfen gegen die Entzündungen.«
Kyla sah zu, wie Olha sie reinigte, dann zermalmte sie mit ihren Zähnen wie befohlen die schwarzen Beeren. Die Früchte schmeckten fürchterlich, aber wenn Olha sie vergiften wollte, hätte sie sich wohl kaum die Mühe gemacht, erst ihre Wunden zu versorgen.
»Du bist wirklich ein mageres Ding. Kein Wunder, dass du dich sogar am Mahl der Herrscherin vergriffen hast. Du kannst froh sein, dass du nicht an Ort und Stelle totgeschlagen wurdest.«
»Unser Sklavenhalter schlägt mich bestimmt noch tot«, erwiderte Kyla düster. Olha sah sie einen Moment lang schweigend an, dann sagte sie: »Du bist dumm wie ein Stück Jantholz!«
»Jantholz?«, fragte Kyla, die über die Reaktion der Frau verwirrt war. »Ja, dumm wie Jantholz – das sagen wir hier so, wenn jemand rein gar nichts versteht. Das Zeug ist so wurmstichig, dass es zum Bauen nicht taugt – und genauso löchrig sind offenbar auch deine Gedanken, sonst würdest du nicht solchen Unsinn über Zygal erzählen.«
»Schlägt er dich denn nicht?«, fragte Kyla erstaunt. Olha schnaubte. »Ich bin Zygals Gefährtin, nicht seine Sklavin – und das bist auch du nicht. Hier, im Reich der Herrscherin Paraila gibt es keine Sklavinnen. Man merkt, dass du von außerhalb der Mauern kommst, aber die Welt hier drin ist anders.«
Kyla hatte schon fast vergessen, dass sie sich jetzt innerhalb der Undurchdringlichen Mauern befand – das, was sie sah, ähnelte ihrer eigenen Welt so sehr, dass es ihr schwerfiel, den Unterschied zu begreifen.
»Also bin ich frei? Warum hat mich Zygal dann seinen Besitz genannt?« Olha seufzte, sie fasste Kyla sanft ans Kinn, damit diese sie ansehen musste. »Weil du jetzt unser Kind bist. Und Kinder sind hier im Reich der Herrscherin das Eigentum ihrer Eltern. Doch das wird nicht so bleiben – wenn du alt genug bist, bist du eine freie Frau. Bis dahin rate ich dir jedoch dringend, Zygals und meinen Befehlen Folge zu leisten. Denn ansonsten wirst du die Zeit der Freiheit vielleicht nie erreichen.« Kyla starrte sie an. Gerade noch versuchte sie zu begreifen, dass sie nun das Kind dieser Leute war, als auch schon die Drohung folgte, dass sie diesen Stand vielleicht nicht überleben würde.
»Sieh mich nicht so erschrocken an. Beachte einfach nur, was ich dir sage, dann wird dir nichts geschehen. Reize Zygal nicht – er hat viel auf sich genommen, indem er dir ein Zuhause gibt. Und er wird noch sehr viel mehr auf sich nehmen. Mehr, als du vielleicht jemals begreifen wirst, also zolle ihm Respekt!«
Kyla schluckte. Sie verstand nicht alles, was Olha sagte. Aber sie hatte begriffen, dass es nun Chyrrta gab, zu denen sie gehören sollte – nicht als Sklavin, sondern als deren Kind. Es dauerte geraume Zeit, bis sie wieder sprechen konnte. Olha gewährte sie ihr. »Dann bist du jetzt meine Mutter?«
»Ja, das bin ich«, bestätigte Olha mit einem Lächeln. Wenig später saß Kyla im Haus an einem Holztisch und sah zu, wie Olha aus einem großen Topf Suppe in eine Schüssel füllte. Sie stellte sie vor Kyla auf den Tisch und setzte sich dem Mädchen gegenüber.
»Iss, bevor die Suppe kalt wird!« Sie öffnete ein Tongefäß und legte ein paar Stücke Brot neben die Schüssel. Kyla griff nach der Schüssel und führte sie zum Mund. Sie erschrak, als die heiße Flüssigkeit ihre Lippen berührte, und verschüttete einen Teil davon. Olha schimpfte zu ihrem großen Erstaunen nicht, sondern erhob sich, um ein Stück gewebten Stoff zu holen und das Nasse vom Tisch zu wischen. Kyla probierte die Suppe erneut, und diesmal gelang es ihr, sie problemlos zu trinken.
»Du kannst den Löffel für das Gemüse und das Fleisch benutzen«, sagte Olha und deutete auf das Gebilde, das auf dem Tisch lag. Kyla griff danach, sah es interessiert an und tauchte es dann in die Suppe. Sie war davon begeistert, wie einfach es nun war, die in der Brühe schwimmende Nahrung in ihren Mund zu führen. Olha sah ihr eine Zeit lang schweigend zu.
»Hast du immer nur in den Wäldern gelebt?«, fragte sie schließlich. Kyla nickte, nicht willens, das Essen für so etwas Unwichtiges wie ein Gespräch zu unterbrechen.
»Was ist das Erste, an das du dich erinnern kannst? Waren da Wesen, die auf dich achtgaben? Eltern? Du kannst doch unmöglich ganz alleine gewesen sein, sonst hättest du mit Sicherheit nicht überlebt.«
Kyla kaute ein Stück Fleisch und häufte sich gleich ein neues auf den Löffel, um auch das zu verzehren, bevor sie antwortete. »Ich kann mich an niemanden erinnern. Vielleicht waren da mal Chyrrta, die mich gemacht haben. Ich weiß es nicht. Vielleicht gingen sie irgendwann weg. Ich kann mich an niemanden erinnern«, sagte sie dann noch einmal und aß weiter. Olha nickte. »Was ist denn das Erste, an das du dich erinnern kannst?«, wiederholte sie ihre vorherige Frage. Kyla überlegte. »Ich erinnerte mich an den ersten Firi, den ich sah. Er war zu jung zum Fliegen. Ich habe ihn aus dem Nest genommen und ihm den Kopf abgebissen – aber seinen Schnabel habe ich ausgespuckt, weil er zu hart zum Kauen war.«
Olhas Mund war zu einem schmalen Strich geworden. »Und an was erinnerst du dich noch?«
Kyla überlegte abermals und fuhr mit vollem Mund fort: »Ich habe dem Firi den Flaum abgerupft und seinen weichen Körper gegessen. Ich erinnere mich, dass er gut schmeckte. Dann habe ich nach mehr Firis gesucht, aber ich fand keine. Deshalb aß ich Würmer und Schnecken – aber die haben nicht so gut geschmeckt.«
Olha verzog angeekelt das Gesicht, doch dann kehrte sie zu ihrer gelassenen Mine zurück. »Du kannst dich also nur daran erinnern, was du gejagt hast? Was ist mit anderen Erinnerungen? Hast du keine Chyrrta gesehen? Weißt du irgendwelche Namen aus deiner Vergangenheit?«
Kyla schüttelte den Kopf. »Nein, so etwas weiß ich nicht ...« Olha sah sie forschend an und Kyla fühlte sich unbehaglich. Als die Tür mit einem heftigen Stoß geöffnet wurde, zuckten beide zusammen.
»Zygal, mach doch nicht immer so einen Lärm, wenn du das Haus betrittst!« Olha sah ihren Gefährten tadelnd an, erhob sich dann und fragte: »Möchtest du Suppe?« Er gab ein Grunzen von sich, was Olha wohl als Zustimmung deutete, denn sie füllte ihm ebenfalls eine Schüssel. Kyla bemerkte Zygals brennenden Blick und bemühte sich, die Suppe zu löffeln, ohne etwas zu verschütten.
»Also hat das Gör sich doch noch gewaschen. Und statt im Fluss zu ersaufen, isst es uns jetzt die Suppe weg.« Er ließ sich Kyla gegenüber auf einem Stuhl nieder, der unter seinem Gewicht ächzte. Kyla hielt den Blick gesenkt, aber sie hatte aufgehört, zu kauen.
»Du machst ihr Angst. Iss, Kind! Bis morgen früh wird dies die letzte Mahlzeit sein.« Kyla aß weiter, auch wenn ihr Mund plötzlich ganz trocken war. Zygal hatte seine riesigen Pranken auf den Tisch gelegt. Sie waren voller Narben, ein Nagel war schwarz verfärbt.
»Hast du die Hufeisen für die Pferde der Herrscherin fertig geschmiedet?«, fragte Olha. »Die für ihr eigenes Pferd und die für die Pferde ihrer Reiter. Den ganzen Tag hat es gedauert. Und dank dieses Görs wäre ich beinahe nicht fertig geworden. Die Reiter kommen morgen bei Sonnenaufgang. Das Pferd der Herrscherin bringen sie mit, damit ich die Hufeisen anpassen kann. Es wird Zeit, dass sie kommen, denn dann erhalten wir auch unsere versprochene Ware.« Olha schien zufrieden.
Kyla sah Zygal verstohlen an, während er aß. Er war also ein Schmied, der im Auftrag der Herrscherin arbeitete. Aber warum lebte er dann nicht bei ihr am Palast? Und warum war sein Land durch eine Brücke mit einem so unüberwindbaren Fallgitter geschützt? Nach allem, was Kyla über die anderen Chyrrta durch ihre heimlichen Streifzüge wusste, lebten die meisten Frauen in Gefangenschaft. Bei Olha schien das jedoch tatsächlich anders zu sein. Vielleicht hatte sie ja mit ihrer Behauptung recht gehabt und innerhalb der Undurchdringlichen Mauern gab es andere Regeln zwischen Männern und Frauen. Kyla wusste zu wenig darüber, doch sie fühlte sich auch nicht in der Lage, länger darüber nachzudenken, denn nachdem sie mit dem Essen fertig war, überfiel sie eine tiefe Müdigkeit. Sie spürte, wie ihr Kinn auf die Brust sank, um dann bereits im nächsten Moment von ihr hochgerissen zu werden. Sie durfte nicht schlafen! Nicht hier – nicht, solange diese Chyrrta