Kyla – Kriegerin der grünen Wasser. Regina Raaf
Kyla musste lachen, weil eines der Hühner Olha nun aufmerksam ansah und dann ein Gegacker von sich gab, als wolle es die Beleidigung zurückgeben. Die Luft stank, aber Kyla machte es Spaß, so wild zu kehren, dass der Hühnerdreck nur so umher spritzte. Olha hatte sich ein Tuch vor Mund und Nase gebunden und ihr ebenfalls eines verpasst. Nun kehrten sie beide so kräftig, dass die Hühner doch das Weite suchten. »Ja, kommt später wieder, wenn euer Reich fertig ist!«, rief Olha ihnen hinterher.
Als sie mit dem Ausmisten fertig waren, häuften sie frisches Stroh in den Stall, dann sagte Olha: »Lass uns eine kleine Pause machen, bevor wir das Gehege für die Ziegen errichten.« Sie gingen ins Haus und Olha gab Kyla einen Becher mit einer Flüssigkeit, die sie selbst zubereitet hatte. Sie schmeckte fruchtig und war herrlich kühl. Kyla trank den Becher innerhalb kürzester Zeit leer, Olha schenkte ihr nach. »Sonst habe ich nur Wasser aus einer Quelle getrunken, aber das hier schmeckt viel besser!«
»Das Lob höre ich gerne«, freute sich Olha. Nach kurzer Zeit gingen sie wieder hinaus und Olha deutete auf einige angespitzte Holzpflöcke. »Zygal hat die schon vor Tagen vorbereitet. Auch die Latten liegen schon bereit. Unsere Aufgabe ist es, sie so anzubringen, dass die Tiere sie als Barriere sehen, und dass der Zaun hoch genug ist, damit sie nicht darüber hinwegspringen. Meinst du, wir beide bekommen das hin?« Kyla nickte aufgeregt. Ihr Blick ging zu den Holzteilen, dann schweifte er in eine Ecke, in der ein seltsames Gerät stand. Ein Holzstiel steckte in einem großen, aus Metall gefertigten Keil, der zu beiden Seiten abgeflacht und geschärft war. Kyla wusste, dass das Gerät zum Spalten von Holz benutzt wurde. Sie merkte sich, wo es stand, denn vielleicht würde sie es später noch benötigen. Olha ging plötzlich in diese Richtung, und Kyla glaubte einen Moment lang, sie habe bemerkt, dass sie das Werkzeug ins Auge gefasst hatte. Doch Olha griff es nur, um es zur Seite zu stellen – zum Vorschein kam ein weiteres Werkzeug. Es war ein grober Klotz aus Metall, der fest mit einem Holzstiel verbunden war.
»Das ist einer von Zygals besten Hämmern. Er ist stabil und wird uns eine große Hilfe sein. Leider ist er auch sehr schwer, aber das soll uns nicht schrecken, nicht wahr?« Ehe Kyla antworten konnte, griff sich Olha bereits den Hammer und deutete auf die Holzpflöcke.
»Nimm dir einen oder zwei davon und dann folge mir. Die restlichen holen wir nach und nach. Das Gehege der Ziegen soll so nah wie möglich ans Wohnhaus, damit wir die Tiere im Blick haben.«
Die Sonne wanderte unaufhaltsam weiter, während Olha und Kyla den Zaun errichteten. Sie benutzten den schweren Hammer, um die angespitzten Enden der Pflöcke tief in die Erde zu rammen. Es war anstrengend, aber Kyla gefiel es, zu sehen, wie viel sie bereits geschafft hatten. Sie hielt die Holzpflöcke, während Olha sie in die Erde schlug. Die Ziegen meckerten ab und zu und drängten sich gegenseitig zur Seite, als wäre der Platz der jeweils anderen der bessere.
»Es ist gut, wenn wir bald fertig sind, damit die Tiere sich frei bewegen können.«
Kyla kam der Gedanke, dass Olha den Ziegen damit mehr zugestand, als ihr. Doch obwohl Kyla wusste, dass sie eine Gefangene war, fühlte es sich im Moment gar nicht so an. Die Arbeit bereitete ihr wirklich Freude, und es war ein gutes Gefühl, den Ziegen eine sichere Heimat zu schaffen – auch wenn es im Grunde ebenfalls eine Gefangenschaft war. Olha wischte sich den Schweiß von der Stirn und band ihre dunklen Haare neu zusammen. Zum ersten Mal betrachtete Kyla sie näher. Olha hatte gleichmäßige Gesichtszüge, einige Falten auf ihrer Stirn und neben ihren Augen zeugten von ihrem Alter. Sie hatte eine normale Gestalt – nicht zu dünn und nicht zu dick. Nun wirkte sie so erschöpft, dass Kyla anbot: »Lass mich den nächsten Pfahl einschlagen, dann kannst du dich etwas ausruhen.«
Olha lächelte. »Es ist besser, wenn du es in ein paar Tagen versuchst. Dann, wenn du regelmäßig Nahrung zu dir genommen hast und zu Kräften gekommen bist.«
Kyla erwiderte nichts, sondern nickte nur stumm. In ein paar Tagen wäre sie vielleicht wirklich kräftig genug – aber solange würde sie nicht mehr hierbleiben. Olha hob erneut den schweren Hammer und schlug auf einen Pfosten, um ihn in die Erde zu treiben. Als sie damit fertig war, keuchte sie: »Kyla, geh uns Wasser aus der Höhle holen. In der Küche findest du Gefäße, in die du es füllen kannst. Ich werde inzwischen die restlichen Pflöcke einschlagen. Die Querbalken anzubringen, wird hoffentlich etwas leichter werden. Auf jeden Fall kannst du mir dann besser helfen. Beeile dich mit dem Wasser, damit wir schnell weitermachen können.«
Kyla tat, was ihr befohlen worden war. Sie ging zum Haus zurück und nahm zwei Krüge, die aus Ton gefertigt waren. Dann verharrte sie einen Moment und dachte nach. Olha selbst schickte sie in die Höhle – und damit aus ihrem Blickfeld. Es war die Gelegenheit, auf die Kyla gewartet hatte, um zu entkommen. Aber sie würde dafür sorgen müssen, dass Olha ihr nicht sofort nachsetzen konnte, wenn sie bemerkte, dass sie nicht zurückkam. Also verließ sie das Haus und löste rasch die Leinen der Ziegen vom Pflock, an dem diese angebunden waren. Die Tiere bemerkten es erst gar nicht, und Kyla hoffte, sie würden nur langsam davon trotten, damit sie genügend Zeit gewann.
Dann machte sie sich schnell auf den Weg in die Höhle. Ein letzter Blick zurück zeigte ihr, dass Olha zu sehr beschäftigt war, um von ihren Plänen etwas zu bemerken. Kyla ging in die Höhle. Sie stellte die Krüge vor dem Wasserrinnsal ab und begab sich dann eilig in den hinteren Teil. Die Luft wurde stickig und die Schwärze für die Augen undurchdringlich, doch Kyla wollte sich davon nicht abhalten lassen, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Sie ging weiter und verlor das Gleichgewicht, da der Boden sehr uneben wurde. Ihre Füße fanden keinen Halt mehr; als sie stürzte, hörte Kyla das Reißen von Stoff. Sofort hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie die Kleidung, die Olha ihr gegeben hatte, nicht sorgsam behandelte. Erst dann wurde ihr bewusst, dass es ihr egal sein konnte, denn Olha würde sie ohnehin nie wiedersehen, wenn die Flucht gelang. Ein beinahe schon körperlicher Schmerz jagte bei dem Gedanken durch ihren Körper. Olha niemals wiedersehen? War es wirklich das, was sie wollte? Die erste Chyrrta verlassen, die sich um sie sorgte? Die ihr zu essen gab. Die ihr ein Dach über dem Kopf bot. Und ein Bett, das schöner war, als der schönste Traum, den Kyla in ihrem Leben bisher je zu träumen gewagt hatte? Sie tastete und fühlte einen langen Riss im Stoff ihrer Beinbekleidung. Er war feucht und ihr Knie schmerzte. Vermutlich nur die erste Verletzung, wenn sie weiter im Finsteren einen Weg durch diese Höhe finden wollte. Kyla biss die Zähne zusammen, dann hörte sie Olhas Stimme.
»Kyla! Schnell, komm zu mir! Beeil dich! Wir müssen Schutz suchen!« Eine Falle! Es musste eine Falle sein – aber Olhas Stimme klang so aufgeregt ... Kyla lauschte. Nun wurde Olhas Stimme panisch.
»KYLA? Kind, wo bist du?« Immer noch antwortete Kyla nicht, aber sie lief zurück. Wenn Olha sie nur hervorlocken wollte, hatte sie ihr Ziel fast erreicht. Kyla blieb kurz vor dem Ausgang stehen. Ihr Herz schien ebenfalls stillzustehen, als sie erkannte, dass drei Fremde auf Olha zustürmten. Irgendwie waren sie auf das Landstück gelangt. Sie schwangen große Waffen, die im Sonnenschein aufblitzten. Olha versuchte, ihnen auszuweichen; die Ziegen liefen in dem Tumult ängstlich von einer Seite des Grundstücks zum anderen. »Kyla, versteck dich! Wo auch immer du bist, versteck dich gut!«
Nein, Olha versuchte nicht, sie aus der Höhle zu locken, sondern sie hatte wirklich Todesangst – und sie wollte offenbar um jeden Preis verhindern, dass die Männer Kyla fanden, denn sie stellte sich einem von ihnen in den Weg, als er in Richtung der Höhle laufen wollte. Kyla sah das dunkle Gewand des Mannes: schweres, schwarzes Leder bedeckte beinahe seinen gesamten Körper. Gefährlich aussehende Stacheln aus Metall befanden sich an seinen Schultern und Ellenbögen. An seinen Stiefeln waren diese metallenen Spitzen sogar noch länger – und nun trat der Mann damit nach Olha! Er traf sie am Oberschenkel. Augenblicklich färbte sich der Stoff ihres Kleides blutig rot. Der Mann lachte und schrie Olha dann an, dass sie einen langsamen Tod erleiden würde, wenn sie nicht preisgab, wo das Kind sich versteckt hielt.
Kyla konnte nicht glauben, was sie da hörte. Wieso fragte dieser Mann nach ihr? Und warum tat er Olha so furchtbar weh, nur um an diese Informationen zu gelangen? Kyla hatte ihn noch nie in ihrem Leben gesehen. Natürlich hatte sie so manchen Chyrrta bestohlen – und ihre Opfer sannen bestimmt auf Rache – aber das war jenseits der Undurchdringlichen Mauern gewesen. Hier kannte sie außer Zygal und Olha doch niemanden! Was könnte dieser Kerl also von ihr wollen?