Kyla – Kriegerin der grünen Wasser. Regina Raaf
– anders, als diese Männer! Vielleicht setzte man hier, genau wie jenseits der Undurchdringlichen Mauern, Kinder als Sklaven ein. Möglicherweise waren sie deshalb so begierig gewesen, sie in ihren Besitz zu bekommen. Kyla graute bei dem Gedanken, solchen Männern in die Hände zu fallen. Hatte Olha ihr vorenthalten, dass es diese Art der Sklaverei hier doch gab? Kyla wollte nicht, dass noch mehr solcher Angreifer kamen, also half sie ihr dabei, den Baumstamm als Brücke unbrauchbar zu machen. Sie benötigten geraume Zeit, aber schließlich fiel er in den Fluss und trieb davon. Olha sah völlig erschöpft aus. Das getrocknete Blut hatte dunkle Flecken auf ihrem Kleid hinterlassen.
»Lass uns die Ziegen einfangen und dann zu Abend essen. Für heute haben wir genug geleistet.« Stumm blickten sie zu den Leichen der Männer. Olha schüttelte den Kopf, als könne sie immer noch nicht recht glauben, was passiert war. Auch Kyla konnte es nicht fassen – sie hatten sich gegen drei Männer verteidigt, die mit der Absicht gekommen waren, sie zu holen. Was hätten sie wohl mit ihr getan, wenn sie sie zu fassen bekommen hätten? Konnte es schlimmer sein, als die Gefangenschaft, in der sie momentan lebte?
Kyla dachte darüber nach und kam zu dem Schluss, dass es eine ganze Menge gab, was weit weniger zu ertragen wäre, als ein Leben bei Olha. Insgeheim wünschte sich Kyla jedoch, dass Zygal nicht so viel Glück wie sie und Olha haben würde – sie hoffte, er würde auf Feinde treffen, die ihm nach dem Leben trachteten und ihn besiegten, damit er nicht mehr nach Hause zurückkehrte. Mit Olha würde sie viel einfacher zurechtkommen – selbst, wenn sie nicht fliehen wollte. Aber mit Zygal? Er schien ihr unberechenbar.
Als sie am Tisch saßen und Suppe mit Brot aßen, sagte Olha: »Ich weiß, dass du heute fliehen wolltest. Ich danke dir, dass du zurückgekommen bist und mir geholfen hast.«
Kyla hätte sich beinahe an der Suppe verschluckt. Olha hatte ihren Fluchtversuch also durchaus zur Kenntnis genommen. Doch statt ihr Vorhaltungen zu machen, bedankte sie sich nun sogar. Kyla nickte nur knapp zur Erwiderung. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sich zu verteidigen, wäre ebenso falsch, wie den Dank anzunehmen. Stattdessen sagte sie schließlich: »Sie kamen wegen mir. Die Männer waren hier, weil sie mich gefangen nehmen wollten.«
Olha nickte vage. »Möglich. Vielleicht wollten sie dich aber auch töten. Ich weiß es nicht.« So schnell wollte Kyla sich nicht abspeisen lassen. Olha musste doch mehr wissen. »Warum haben sie mich gesucht? Sie kennen mich nicht. Niemand kennt mich. Ich habe hinter den Undurchdringlichen Mauern gelebt und mich immer versteckt.«
Olha pustete auf die Brühe, um sie dann in Ruhe vom Löffel zu schlürfen. Kyla sah sie abwartend an. Sie würde nicht eher ruhen, bis Olha ihr gesagt hatte, was sie wusste. Doch was Olha ihr dann offenbarte, machte Kyla sprachlos. »Schon bald wird dich jeder kennen, Kyla. Zygal und ich kennen dich schon seit langer Zeit – noch vor deiner Geburt.«
»Das verstehe ich nicht.« Diese Worte ergaben doch überhaupt keinen Sinn.
»Eines Tages wirst du es verstehen. Aber bis dahin möchte ich, dass du dich nicht mit unnötigen Fragen beschäftigst, sondern versuchst, das zu begreifen, was wir dich lehren. Es ist wichtig, dass du Zygal und mir gehorchst. In den nächsten Tagen wird dein Körper vom heutigen Kampf sehr schmerzen. Du bist hart getroffen worden. Ich werde dir eine Salbe geben, mit der du dich einreiben kannst. Aber am wichtigsten ist, dass du mir versprichst, nicht mehr so tief in die Höhle zu gehen. Deine Füße sind aufgeschürft von den scharfkantigen Steinen. Ich weiß, dass du glaubst, es gäbe einen Ausgang, wenn man die Schwärze durchdringt. Aber es gibt keinen, das schwöre ich dir bei meinem Leben. Das Einzige, was es dort gibt, ist das klare, genießbare Wasser – doch ansonsten gibt es dort nur Verderben und Tod. Wäre es anders, hätten Zygal und ich dir niemals den Zugang gewährt, das muss dir doch klar sein.«
Kyla dachte über das Gesagte nach. Schließlich nickte sie. Natürlich hätten ihre Besitzer ihr verboten, die Höhle überhaupt zu betreten, wenn sie tatsächlich die Möglichkeit zur Flucht bot. Doch nun gab es eine weitere Möglichkeit, um zu entkommen. Die Angreifer hatten sie ihr heute gezeigt. Sicher, es würde Zeit und unglaublich viel Kraft brauchen, um einen Baum zu fällen. Und vor allem würde sie erst einen finden müssen, der von dieser Seite des Ufers nahe genug am Fluss stand, um die andere Seite damit zu erreichen. Aber wie sollte sie es nur anstellen, ihn unbemerkt zu fällen, wenn Olha und Zygal jetzt noch mehr Augenmerk auf die umstehenden Bäume richteten? Sie würde irgendwie einen Weg finden müssen. Aber wie nur? Kyla versuchte, in Olhas Gegenwart nicht so viel darüber nachzudenken, denn irgendwie hatte sie das Gefühl, diese Frau könne ihre Gedanken lesen.
Sie waren gerade damit fertig, das Geschirr abzuwaschen, als sie erneut Hufgetrappel hörten. »Geh in deine Kammer!« Kyla gehorchte sofort. Olha öffnete die Haustür ein Stück, dann rief sie auch schon: »Den grünen Wassern sei Dank! Zygal, endlich bist du heimgekehrt!« Ohne ein weiteres Wort an Kyla zu richten, verließ sie das Haus und lief ihrem Gefährten entgegen.
Kyla ging zur Tür und sah, wie Zygal sich vom Pferd schwang und Olha in seine Arme zog. Er hielt sie fest und dann küssten sich die beiden. Kyla wurde bei dem Anblick ganz seltsam zumute. Sie hätte niemals gedacht, dass der Schmied so gefühlvoll sein konnte. Er sah erschöpft aus, seine Kleidung war jedoch sauber und sein Pferd trug auf dem Rücken einige Säcke, die prall gefüllt waren.
»Was ist hier passiert?« Er blickte sich um und seine Miene wurde düster.
»Bewaffnete Männer waren hier. Sie wollten Kyla. Aber sie haben sie nicht bekommen. Zygal, das Kind hat sie ganz alleine niedergestreckt. Es war unglaublich! Es war so, wie es uns vorausgesagt worden ist. Es besteht nun kein Zweifel mehr: Sie ist es!«
Zygal heftete seinen Blick auf Kyla, die immer noch im Türrahmen stand. Er sah nicht freundlich aus. »Eine freudige Erkenntnis – jedoch nicht für uns.«
»Pssst … sie hört dich doch. Bitte, Zygal, sie kann doch nichts dafür. Es ist unser Schicksal, das wussten wir von Anfang an. Und sieh: Sie hat mir heute das Leben gerettet!«
»Ja, heute ...« Zygal sah zu den Leichen, die immer noch verstreut lagen. »Ich wusste nicht, was wir mit ihnen tun sollen«, sagte Olha leise. Zygal runzelte die Stirn. »Überlass das mir.« Er wollte sich umdrehen, aber Olha fasste ihn am Arm. »Entweihe nicht den Ort des Vergessens. Ich flehe dich an. Lass ihnen ihren Frieden!«
Kyla war verwundert über die Worte. Meinte Olha damit etwa die Angreifer? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Es schien ihr, als sei sie um den Frieden anderer besorgt, aber mehr erfuhr Kyla nicht, denn nun kehrte Olha zu ihr zurück und befahl: »Du wirst jetzt schlafen gehen, Kyla. Es war ein harter Tag. Zieh dich um und entleere deinen Körper im Verschlag neben dem Haus. Dann kehrst du sofort zurück!« Kyla nickte und tat, was von ihr verlangt worden war. Als sie den Verschlag verließ, konnte sie sehen, wie Zygal die Körper der toten Männer in den Fluss warf. Ob Olha mit dieser Lösung einverstanden war? Sie ging ins Haus und erkundigte sich danach. »Keine Fragen, habe ich dir doch gesagt. Leg dich nun in dein Bett!« Olhas ernste Stimme ließ Kyla erschaudern. In diesem Moment war von der freundlichen Frau, die für sie sorgte, nicht viel übrig. Kyla wurde klar, dass sie die Flucht doch hätte riskieren sollen. Doch nun war es zu spät, und so legte sie sich hin, worauf Olha ihr sorgsam die Ketten anlegte. »Schlaf gut, mein Kind«, sagte sie dann, drehte sich um und verließ den Raum.
Kyla lag da und starrte an die Decke. Was für ein seltsamer Tag das doch gewesen war. Es gab so viele Dinge, die sie nicht verstand. Aber sie durfte keine Fragen stellen. Sie war angekettet, aber sie fühlte, dass sie trotz allem auch freiwillig bleiben würde. Wie könnte sie jetzt ernsthaft wieder in die Wälder zurückkehren? Wie sollte sie wie bisher weiterleben können, wenn doch alle Chyrrta sie bereits kannten? Und wie sollte sie Olha und Zygal vergessen können, wenn es so vieles gab, das sie von ihnen unbedingt wissen wollte?
Kyla ignorierte die Fesseln und schloss die Augen. Der Tag war wirklich anstrengend gewesen. Vielleicht einer der anstrengendsten in ihrem bisherigen Leben – und in der Tat einer der seltsamsten.
2. Kapitel
»Los,