"Die Stunde des Jaguars". Jens Petersen
nichts, was ich ihm sagen müsste. Anrufen aber sollte ich, dass mit einer längeren Abwesenheit von mir zu rechnen sei. Warum? Was könnte ich ihm da schon erzählen? Soll er sich doch seinen eigenen Reim darauf machen. Das wird er ohnehin tun, ganz gleich was er von mir hört.
Meine kleine Reisetasche ist handlich und enthält alles was ich vorerst brauche. Mehr wäre nur eine unnötige Belastung. Wenn erforderlich, kann ich mir das eine oder andere jederzeit unterwegs kaufen.)
Nach solchen Überlegungen gleich um einiges gelöster, bummelte Cuevas durch die Gassen, jetzt nur noch erwartungsvoll, was die nächste Zeit so bringen würde. Sich frei und unbeobachtet wähnend, sagte San Miguel ihm jedenfalls schon einmal zu. Anheimelnd wirkte es, mit malerischen Häusern und von Blumen überrankten Mauern zwischen denen er ahnungslos flanierte. So wie er es auf Fotos von Andalusien gesehen hatte, erschien es ihm. Doch war so manches anders, eben Mexikanisch, nicht nur die Trachten der Frauen vor den Waschbecken am Eingang der Stadt. In einigen Nischen der oberen Hauswände gewahrte er kleine Figuren aus Stein oder Ton, wie sie seit alten Zeiten als Hausgottheiten gehalten wurden.
(Das passt genau zu dem romantischen Ambiente, diese Harfenklänge, die da aus der Seitengasse dringen. Anfänglich hatte ich gar nicht auf den Text des Gesangs geachtet, bis der Refrain mich aufhorchen ließ.)
„Ay, que me duelen las bolas.”
(Bei dieser schwülen Stimmung eigentlich nicht verwunderlich. Dennoch muss ich über solch unverfrorene Frivolität lächeln.)
Seiner Neugier in die betreffende Seitengasse folgend, sah er einen Jüngling hinter seiner Harfe stehen, den Blick geheftet auf ein Fenster im ersten Stock.
„Muchacha enamorada“,
klang es jetzt schmachtend, eine neue Strophe des Ständchens ankündigend.
(Garantiert wird die wieder in dem gleichen Refrain enden. Aber wie dieser schlüpfrige Hilferuf ankommt bei der Angebeteten, die da oben hinter dem schmiedeeisernen Fenstergitter sichtbar war, will ich denn doch nicht unbedingt abwarten.)
Bis zum Sonnenuntergang war eigentlich noch geraume Zeit. Aber die Zusammenballung der schweren, dunklen Wolken am Himmel wurde zusehends dichter und erzeugte so etwas wie eine vorzeitige Dämmerung. Die altmodischen Lampen, die mit ihren eisernen Trägern abstanden von den Wänden der niedrigen Häuser, glommen jetzt auf und verstrahlten ein trautes Licht. Cuevas schaute prüfend in den Himmel.
(Das kann jeden Moment losgehen. Es wird auch höchste Zeit, nach dem, was ich schon auf der Fahrt von Sonoyta nach Mexico beobachten konnte. Über weite Strecken waren nur Felder mit dürrem, gelblich grauem Gras zu sehen, dazwischen Gestrüpp und Bäume, die ihr gewohntes saftiges Grün vermissen ließen.)
Die dunklen Wolken, die mittlerweile lückenlos den ganzen Himmel bedeckten, hatten ein magisches Zwielicht erzeugt. Wie verstreute Glühwürmchen hoben sich die vor den alten Häusern warm schimmernden Lampen davon ab.
Als er die Plaza betrat mit der kleinen Kirche, kam ihm schon ein frischer Windzug entgegen, wie er so häufig auftritt als Vorbote größerer Regengüsse. Er fegte durch die offenen Gewölbe auf dem Dach der Kirche, ließ die aufgehängten Glocken leicht anklingen und zerzauste die Wipfel der Palmen. Auch die zuvor so aufdringlichen Fliegen hatten sich, nichts Gutes ahnend zurückgezogen. Die Feuchtigkeit der Luft war nahezu greifbar. Waren schon zuvor auf den Gassen nur wenige Menschen zu sehen, so traf er die Plaza völlig leer und dunkel an.
Ein erster Blitz zuckte durch die Wolkendecke. Auf den Punkt zugleich mit dem folgenden Donnerschlag setzten die Mariachi ein. Sie standen da vor dem Café in ihren schwarzen Uniformen und den wagenradgroßen Sombreros wie dräuende Statuen in einer immer grauer und dämmriger werdenden Welt. Wild aufreizend spielten sie. Mit jedem Blitz und jeden Donnerschlag, die jetzt immer dichter folgten zu einem gewaltigen, alles beherrschenden Stakkato, wurden auch ihre Rhythmen heftiger. Vom Donner angefeuert brach es hervor, dieses spontane Zusammenspiel von Naturgewalten und menschlicher Kunst. Als wären Donner und Blitz ihnen in die Adern, die Trompeten, Violinen und Gitarren gefahren. Im Griff dieses überirdischen Spektakels spielten sie mit unerreichter Leidenschaft. Wie gebannt setzten sie dieses himmlische Geschehen fort, ließen von den krachenden Schlägen sich durchdringen, um sie infernalisch, in urwüchsiger Schönheit wieder von sich zu geben. Bizarre Szenerien blinkten, von den Blitzen nur kurz erhellt, über ihren Köpfen auf, für Bruchteile von Sekunden der Dunkelheit entrissen. Kein Zeuge war auf der leeren Plaza, außer Cuevas, der allein diesem einmaligen Schauspiel folgte. Für niemand sonst spielten die Männer, als für die Naturgewalten über ihren Köpfen.
Mit dem Ende des letzten Donners verstummten auch die Mariachi, war dieses verwunderliche Zusammenspiel wie ausgeschaltet. Nichts war nur mehr wahrzunehmen als das gleichmäßige Rauschen dichten Regens, der jedes andere Geräusch aufsog.
Cuevas, bis eben noch gebannt von diesem seltsamen Erlebnis, flüchtete mit wenigen Sätzen in das Café. Dennoch war er bis auf die Haut durchnässt, was bei den gegebenen Temperaturen ebenso schnell wieder trocknete.
Nicht allein seine Abendmahlzeit konnte er hier einnehmen, sondern auch in Ruhe sich darüber klar werden, wie es weitergehen sollte.
(Da wäre keinerlei Punkt, an dem ich ansetzen könnte. Einer von den Dreien wird der Mörder sein. Da bin ich mir sicher. Keiner von ihnen wird auffindbar sein. Henson und Stilton gewiss wieder in den Vereinigten Staaten und damit außerhalb meiner Reichweite. Der alte Indianer, auf den tippe ich am ehesten. Wer sonst käme auf dieses magische Gift? Ihn irgendwo auffinden zu wollen erscheint mir am aussichtslosesten. Selbst angenommen einmal den Fall, rein hypothetisch, ich könnte den Mörder überführen und verhören, welche brauchbare Erkenntnis brächte mir das? Vermutlich wusste der nicht mehr, als dass Gonzalves Wichtiges bei sich trug. Diese Notizen von Gonzalves aber wird der Täter längst bei seinem Auftraggeber, wer immer das sein mag, abgeliefert haben.)
(Das Einzige, was überhaupt etwas verspricht, wäre, wenn ich da ansetze, wo Gonzalves seine Erfahrungen gemacht hat, bei den Lacandonen. Genau da aber fangen bereits wieder die Schwierigkeiten an. Die Lacandonen sind einer der Mayastämme, die, um den spanischen Eroberern zu entgehen, sich in den tiefsten Urwald von Chiapas geflüchtet haben. Dort leben sie seit Generationen völlig abgeschirmt von allen anderen. Kein Weg führt zu ihnen. Zu sonderlicher Kontaktfreundlichkeit werden sie wohl wenig Anlass haben. Selbst wenn mir eine Annäherung gelingen sollte, so wäre da immer noch die sprachliche Barriere. Anzunehmen, dass keiner von ihnen Spanisch spricht.)
Er grübelte weiter:
(Es hilft alles nichts, das ist aber der einzige Ansatzpunkt. Schließlich ist es Gonzalves ja auch gelungen. Ich sollte wohl als Erstes seine Fakultät in der Universität von Mexico aufsuchen und sehen, was ich bei Kollegen über ihn erfahren kann und vielleicht auch in den Archiven über die Lacandonen. Das Nächste wäre dann, nach Palenque in Chiapas zu fahren, um dort weiter zu recherchieren. Denkbar, dass ich dort unten jemanden auftreiben kann, der Kontakt zu ihnen hat. Wenn ich Glück habe, damit auch einen Dolmetscher.)
Mit dem Beginn der Regenzeit war ein wesentlicher Wandel in der Natur eingetreten. Nicht nur die Luft, die Temperatur, die Erde und die Vegetation waren anders geworden. Auch das Empfinden aller Lebewesen war davon beeinflusst. Manche Menschen spürten so etwas. Cuevas gehörte zu denen, die dafür nicht verschlossen waren. Alles Grübeln und Kombinieren brachten ihn nicht wirklich weiter. Wie immer, so hatten die Dinge ihre Eigendynamik. Und soeben, mit diesem radikalen Wandel in der Natur, hatte auch mit seinem Anliegen ein Umschwung stattgefunden. Irgendetwas sagte ihm, dass mit seinem Vorhaben und seinem Schicksal soeben eine Veränderung eingetreten war. Allerdings dachte er nicht an so etwas wie das, was ihn als Nächstes erwartete.
Nichtsahnend blickte er hoch und traute seinen Augen nicht. Zum Greifen nahe vor sich sah er eine unbewegte Gestalt. Absolut nichts hatte er kommen hören. Sie war einfach plötzlich da und hatte das regungslose Gesicht eines älteren Indianers. Augenblicklich schlossen sich ihm die Augen, kniffen sich zusammen, mehr ein Reflex als beabsichtigt. Verschreckt beeilte er sich sie wieder zu öffnen. Kein Irrtum, keine Einbildung, dieses Gesicht war immer noch da. Es war auch nicht der Juan Albanil, der ihm beim Verhör in Sonoyta gegenüber gesessen hatte. Aber er war es doch, kein Zweifel.