Hexenseele. Stefanie Purle
wimmere ich nach Luft schnappend. „In die Stirn. Sein Hinterkopf…“ Ich kann nicht weitersprechen.
Zwei der Dienstmädchen beginnen seinen Kopf, die Schultern und seinen Brustkorb abzutasten. Ich spüre die Magie aus ihren Händen fließen, es sind Heilerinnen. Die beiden übrigen Frauen beginnen seine Beine abzutasten.
„Lass sie ihre Arbeit machen, Scarlett“, höre ich die Stimme meiner Tante nun hinter mir und drehe mich zu ihr um, ohne Chris´ Hand loszulassen. „Seine Zeit steht still, sein Zustand wird sich also nicht weiter verschlimmern.“
Ich zögere und schaue auf die Fingerspitzen die über den Körper meines Gefährten tanzen.
„Sie untersuchen ihn, registrieren jede Wunde und jede Verletzung, damit wir sie anschließend heilen können. Steh ihnen nicht im Weg, Kindchen. Lass uns nach unten gehen, da kannst du mir genau erzählen, was geschehen ist.“
Ihre Stimme ist so liebevoll und geduldig, dass ich mich schließlich überreden lasse und mit ihr mitgehe.
Kapitel 4
Roberta wohnt dieses Mal in einer mittelalterlichen Burg inmitten eines dichten Waldes. Die Burg hat sie nach ihren Wünschen umgestaltet und wie immer täuscht der äußere Eindruck. Was von außen klein erscheint, ist im Inneren riesengroß und sehr modern. Andere Räume hingegen hat sie in ihrem ursprünglichen Zustand belassen, wie zum Beispiel den Raum, in dem Chris gerade versorgt wird, genau wie die Treppen und Flure, mit ihren steinernen Wänden und riesigen Ölgemälden in prunkvollen Goldrahmen.
Wir gehen die Stufen einer steinernen Wendeltreppe hinab und von jeder Etage geht ein kleiner Balkon mit Efeu bewachsenem Geländer ab, von dem aus man einen atemberaubenden Blick über den sich endlos erstreckenden Wald hat.
Dass mir das alles auffällt und auch mein Schluchzen aufgehört hat, schreibe ich Roberta zu. Sie hat zwar nichts gesagt, aber ich spüre ihre Magie in mir. Sie nimmt mir für einen Moment den Schmerz und hilft mir so, wieder klare Gedanken zu fassen.
Im Erdgeschoss folge ich ihr durch lange Gänge mit gewölbeartigen Decken hindurch, die alle paar Meter von Ritterrüstungen flankiert werden, bis wir schließlich eine große Küche betreten, dessen Zentrum ein mannshoher Kamin bildet, in dem ein knisterndes Feuer brennt. Den Boden bilden unterschiedlich geformte Basaltsteine, die Wände bestehen aus gebrannten Ziegeln in den verschiedensten Beige- und Rottönen. Über dem Kaminfeuer hängt ein Kupferkessel in dem eine ältere Frau mit einem langstieligen Kochlöffel rührt. Als sie uns bemerkt, richtet sie ihren buckligen Rücken gerade und macht einen Knicks, wobei sie ihre dreckige Schürze an den Zipfeln hochzieht.
„Du kannst Pause machen, Sibille“, sagt Roberta an die Frau gewandt und macht eine wedelnde Handbewegung. „Lass uns bitte allein.“
„Aber… Der Trank!“ Sie deutet auf den Kupferkessel und schiebt ihre löchrige Kopfhaube aus der Stirn.
Roberta schnippst mit dem Finger und das Feuer erstarrt, selbst die Dunstwolke, die aus dem Kessel aufsteigt, steht still und bewegt sich nicht weiter.
Sibille nickt und streift ihre Handflächen an der Schürze ab, bevor sie sich umdreht und mit vielen kleinen Schritten die Küche verlässt.
Roberta lotst mich zu dem länglichen Holztisch, an dem mehrere Stühle mit gewebten Sitzflächen aus Stroh und Weidezweigen stehen. Ich nehme Platz und stütze die Arme auf der von Holzwürmern durchlöcherten Tischplatte ab. Meine Tante setzt sich mir gegenüber, greift nach meinen Händen und verbirgt sie in ihren eigenen.
Ich schaue in ihre türkisfarbenen Augen, die mich mitleidig und neugierig zugleich ansehen.
„Was ist geschehen?“, fragt sie und legt den Kopf leicht schief.
Ich hole tief Luft und erzähle ihr von der Libelle und ihrem Leiter Ebraxas Zaballa, von dem Ultimatum, das er jedem Neuzugang stellt und von Corvina, meiner Tante und Robertas Halbschwester.
„Kennst du Corvina?“
Sie schüttelt mit dem Kopf. „Nicht persönlich. Ich weiß, dass es sie gibt, in all den Jahren ist mir ihr Name ein- oder zweimal zu Ohren gekommen, aber ich habe sie nie kennengelernt.“
„Und was ist mit der Libelle? Wusstest du, dass es diese Organisation gibt? Die Liberale Elite Legion?“
Sie seufzt und blickt gedankenverloren an mir vorbei. „Der schwarze König arbeitete eine Zeitlang mit ihnen zusammen. Damals hielt dein Vater mich noch als Sklavin in seinem Schloss. Er ließ sie für ihn forschen und neue dunkle Kreaturen erschaffen. Manchmal tauschten sie besondere Exemplare für die Zucht aus. Irgendwann machte die Libelle einen Fehler und soweit ich weiß, bestrafte Eliot sie dafür. Ich glaube, er nahm dem jüngsten Zaballa seine Magie und machte ihn somit zu einem gewöhnlichen Menschen. Danach war die Geschäftsbeziehung natürlich vorbei.“
Ich nicke. „Ja, so hat Corvina es mir auch erzählt. Sie züchten noch immer dunkle, dämonische Wesen und halten sie in Kerkern gefangen. Sie teilen Dämonen und vervielfältigen sie, und sie schaffen neue Wesen, indem sie sie untereinander kreuzen. Damit trainieren sie dann ihre Legionäre.“
Roberta wirkt nicht sonderlich interessiert, was mich irgendwie wundert. „Wie alt ist dieser Zaballa jetzt? Er muss doch mittlerweile uralt sein!“
Ich sehe sie verdutzt an. „So alt ist er gar nicht“, antworte ich grübelnd. „Zumindest sieht er nicht so alt aus.“
Jetzt spiegelt sie meinen Gesichtsausdruck. „Er war damals schon ein alter Greis, selbst mit seiner Magie sah man ihm sein hohes Alter an.“
Jetzt verstehe ich. „Nein, ich glaube, du meinst den Vater des jetzigen Leiters der Libelle. Ich spreche von dem Ebraxas Zaballa, der keine eigene Magie besitzt.“
Sie macht große Augen. „Was? Dieser Mensch leitet eine magische Organisation?“
„Ja! Sein Vater ist tot und dann hat er die Leitung übernommen.“
Ihr Kopf bewegt sich zu einem langsamen Nicken. „Deswegen auch das Ultimatum“, sagt sie, mehr zu sich selbst. „Nur so kann er neue Mitglieder gewinnen. Welches magische Wesen würde sich schon einem Menschen unterwerfen?“
„Gab es damals kein Ultimatum?“
„Nein! Viele Hexen, Werwölfe, Mannwölfe und andere magische Wesen schlossen sich gerne und freiwillig der Libelle an. Die Libelle brauchte kein Ultimatum, sie war ein Ort, an dem magische Wesen füreinander da waren, miteinander lebten und arbeiteten.“ Sie zuckt mit den Schultern und zieht spöttisch einen Mundwinkel hoch. „Ich habe das nie verstanden. Warum sollte man sich als Hexe nicht mit seinem Zirkel begnügen? Wozu einer Gemeinschaft beitreten, die einem sagt, was man zu tun hat und welche Dämonen man zu bekämpfen hat? Sowas braucht keine Hexe! Aber vielleicht sprechen da auch nur die vielen Jahre der Versklavung aus mir.“ Sie schüttelt mit dem Kopf und kommt wieder auf das ursprüngliche Thema zurück. „Und was hat dieser Mensch nun mit Chris´ Zustand zu tun?“
Als meine Gedanken zu dem Schuss zurückkehren, setzt mein Herz ein paar Schläge aus und ich spüre, wie die Farbe aus meinem Gesicht weicht. „Er hat uns erschossen“, antworte ich und meine Stimme versagt beim letzten Wort.
Roberta mustert mich prüfend. „Auf dir liegt der Inviolabilem-Zauber, ich sehe ihn in deiner Aura.“ Ihr Blick gleitet über meine Konturen. „Warst du tot?“
Ich nicke. „Ja, das war ich. Ich war an einem seltsamen Ort namens Limbus und da waren sieben…“
„Halt!“, unterbricht sie mich scharf und schneidet mir mit einer Handbewegung das Wort ab. „Sprich nicht darüber!“
Mein Mund öffnet sich, doch es kommt kein Ton heraus.
„Denk noch nicht einmal daran!“ Sie sieht mich ein paar Sekunden mahnend prüfend an, dann senkt sie die Hand und ich spüre, wie meine Stimmbänder wieder zum Leben erwachen. „Mit wem auch immer du dort gesprochen hast, du darfst weder an ihn denken, noch jemals