Das Verschwundene Tal. Dietmar Preuß
mannshohe, von unvorstellbaren Kräften glatt geschliffene Steine standen in genau abgemessenem Karree und trugen einen fünften, noch gewaltigeren Stein, der wie ein ovales Dach auf den Tragsteinen ruhte.
„De Fievsteen erinnert uns an de Riesengräber in de Heemat“, erklärte der Führer der Kiepenmänner, als sie die Steinsetzung erreicht hatten. Er sah Wulfiard an und schien auf etwas zu warten. Wulfiard verstand nicht, bis ihm auffiel, dass der Weg sich an der Steinsetzung teilte. Die Karrenspuren auf dem abzweigenden Weg waren tiefer und zahlreicher. „Ich will nach Shuyuk, welchen Weg muss ich nehmen?“
„Links geits op de Berge un dat Mirkashtal zu, in dem seit een paor Jaohrn de Mörder um Ssadec Tabar hausen.“ Der Kiepenmann spie auf den Boden. Das war die stärkste Gefühlsregung, die Wulfiard während des ganzen Tages bei diesen bedächtigen Männern beobachtet hatte.
„Un auf dem annern Wech is man in eene Stunde in Shuyuk.“
„Nun, dann habt Dank für eure Gesellschaft“, sagte Wulfiard und wollte sich nach rechts wenden.
„Möcht he lieber alleene in Shuyuk ankommen? Will he nich mit uns gesehen wern?“, fragte ihn der Anführer nun.
Wulfiard sah ihn verwirrt an, und die Mundwinkel des Mannes zuckten. Tatsächlich hatten die Kiepenmänner gar nicht gesagt, in welche Richtung sie wollten, fiel ihm ein. „Aber nein, entschuldigt, ich würde gerne mit euch bis nach Shuyuk gehen.“
Der Kiepenträger nickte, machte sich auf den Weg nach rechts und seine Kameraden folgten so schweigsam, wie sie es den ganzen Tag gewesen waren. Es war mittlerweile später Nachmittag, aber die Kiepenmänner schritten immer noch kräftig aus. Wulfiard, dem die Beine schwer wurden, schüttelte den Kopf und trottete hinterher.
Der Anführer, dessen Namen Wulfiard immer noch nicht kannte, sollte Recht behalten. Es verging kaum eine Stunde bis sie die ersten Lehmhäuser Shuyuks mit den typischen flachen, pultartigen Dächern sahen. Die Zisternen auf den Rückseiten, in die das seltene Regenwasser von den Dächern geleitet wurde, waren abgedeckt, damit das Wasser nicht verdunstete. Der kleine Ort hatte weder Stadtmauer noch Bazar, Frauen und Kinder in den engen Gassen musterten sie misstrauisch und verstohlen. Um den Dorfplatz vor dem Haus des Murdirs, dem einzigen Haus mit zwei Stockwerken, reihten sich die Werkstätten der Handwerker, zwei Handelskontore und ein paar Teestuben und Schänken.
Die Kiepenmänner blieben auf dem Platz stehen, der alle paar Wochen als Markt- und Richtplatz diente, und sahen Wulfiard an. Er wurde nicht schlau aus dem wortarmen Gebaren der Männer.
„Wir wern noch twee Stunden gehen und unner freiem Himmel öwernachten“, erklärte ihr Anführer.
„Dann ist jetzt wohl doch der Zeitpunkt gekommen, Abschied zu nehmen“, sagte Wulfiard.
„Joah“, antwortet der Mann, „und wenn he mal ins Quellreich kommt, frach er nach den Duorpen der Tuodden. In Riesenbeek wird he Avgust Hetlaak finden un bi hem willkuommen sin!“
„Danke, das werde ich tun“, sagte Wulfiard und sah die Tuodden der Reihe nach an. „Und euch allen einen guten Weg, den die Götter ebnen mögen!“ Da sie wie er von jenseits des Unsteten Pfads kamen, war es angemessen, die Götter der Greiflande anzurufen.
Wieder einmal antworteten die Männer mit Gebrummel, Kopfnicken, aber auch mit freundlichen Blicken aus hellblauen Augen. Dann wandten sie sich um und verließen den Marktplatz auf der anderen Seite. Erst jetzt fiel Wulfiard auf, dass der Anführer der Kiepenmänner ihm seinen Namen genannt hatte. Er hatte ihn sogar eingeladen, sein Gast zu sein. Anders als bei ähnlichen Abschieden hatte Wulfiard das Gefühl, dass Avgust Hetlaak es durch und durch ernst gemeint hatte.
Als die Kiepenträger den Platz verlassen hatten, war es früher Abend geworden. Zeit für eine Mahlzeit und einen erfrischenden Trunk, für den er nichts weiter zu bieten hatte, als seine Geschichten und seine Dichtkunst. Also musste er eine Schänke finden, in der man solche Kunst zu schätzen wusste. „Tengris zum Gruße! Ein Gedicht für einen Trunk, eine Mahlzeit für eine Geschichte!“, rief er, als er in das erste Wirtshaus trat.
Das bisschen Getuschel und Geflüster unter der niedrigen Decke verstummte. Wulfiards Augen gewöhnten sich an das Halbdunkel, und als er sah, dass unter den Gästen kaum jemand war, der noch alle Finger an den Händen hatte, dass einige Männer durchstochene Wangen hatten und auch das eine oder andere ausgebrannte Auge, die Strafen für falsches Zeugnis und Meineid, hielt er inne. In solch einer Spelunke würde er wohl kaum ehrlichen Lohn erhalten. „Mögen eure Geschäfte erfolgreich sein!“, sagte er und schloss die Türe.
In der nächsten Schänke entbot er den gleichen Gruß, aber was er dort sah, waren ausgemergelte Männer, bis auf die Knochen abgemagerte Frauen, auf verwanzten Strohsäcken liegend, hölzerne Näpfe mit Normolcheiern vor sich. Hin und wieder langte einer der lebenden Toten in seine Schale, versuchte eines der glitschigen Kügelchen zu greifen, und wenn er es nach endloser Jagd im Rund endlich erwischt hatte, stopfte er es sich in den Mund und zerquetschte es mit einem leisen Plopp. Die Augen des erfolgreichen Jägers begannen zu glänzen, und er sank auf seine dreckige Liegestatt.
„Verschwinde!“, hörte Wulfiard, ohne zu erkennen, woher das unwirsche Wort kam.
Aus dem dritten Wirtshaus hörte Wulfiard Gesang, und wenn er auch kein Wort verstand, so glaubte er, endlich den richtigen Ort gefunden zu haben. Um den einzigen Tisch des winzigen Raumes, in dem Wulfiard nicht einmal aufrecht stehen konnte, saßen etwa ein Dutzend langbärtige, kleinwüchsige Männer. Ihre Gesichter und Hände waren noch grau von der Arbeit in den Minen der Berge. Den Staub in ihren Kehlen spülten sie mit Bier herunter, knallten die großen Tonkrüge auf die Tischplatte und sahen ihn an.
„Ein Lied für einen Trunk …“, begann Wulfiard.
„Sing uns das Lied vom Hauer vor der güldenen Strecke!“, forderte einer der kleinen Männer ihn auf.
Da er die Lieder dieser Zwerge nicht kannte, verließ er die winzige Pinte, straffte trotz der drei vergeblichen Versuche die Schultern und ging zur nächsten Schänke hinüber, die sogar Fenster aus Glas hatte. Der Lehmputz war frisch gekälkt, das bunt gemalte Kneipenschild zeigte ein Kamel, das aus einem Weinfass soff. Wulfiard klopfte sich den Staub von Hemd und Hose, rückte die Tasche mit den Federn und Pergamentrollen zurecht und stieß die Tür auf.
Die Einrichtung unterschied sich kaum von den Dutzenden, ja Hunderten von Wirtshäusern, die er auf seiner Reise durch Scimmien betreten hatte. Auf der Theke thronte ein angeschlagenes Fass Bier, Bänke und Stühle verteilten sich um Tische verschiedener Größe. Die Oberflächen waren von unzähligen Ellbögen und Hosenböden poliert worden.
Der Batorianer hinter der Theke, dessen Schnürhemd erstaunlich sauber und dessen Gesicht erst kürzlich rasiert worden war, sah auf und musterte ihn. Seine immer noch gute Kleidung war staubig, was bei Reisenden ja nicht ungewöhnlich war. Doch an den Utensilien, die aus Wulfiards Tasche schauten, war er schnell als Haimamud erkennbar, der kaum mit Geld zahlen würde. Die Gäste des Betrunkenen Kamels, eine bunte Mischung ehrbarer Händler, Handwerker und Bauern aus der Gegend, sahen ihn wohlwollend an, widmeten sich aber bald wieder ihren Gesprächen und Geschäften.
Gleich beim Eintreten hatte Wulfiard die friedfertige und ausgelassene Stimmung rechtschaffener Leute gespürt, die die Mühsal des Tages hinunterspülten. Die Gespräche schwollen auf und ab, aus Ecken und Winkeln erschallte Gelächter. Dem Wirt fiel die Kinnlade hinunter, als Wulfiard zur Theke schritt, einen der Bierkrüge vom Tropfbrett nahm, sich in die Mitte des Raumes stellte und den leeren Krug in die Höhe hielt. Die Gäste wandten sich ihm zu, die Gespräche verstummten, ein jeder war neugierig, was wohl nun kam. Wulfiard zögerte und trieb die Spannung bis auf die Spitze, bis er mit wohlklingender Stimme, so dass man ihn auch im hintersten Winkel des Schankraumes hören konnte, in der Sprache der Batorianer deklamierte:
“Der Wirt, der den Gästen Gutes will,
füllt dem Skalden den Krug ganz schnell.
Mit süßem Wein oder frischem Biere
dem Haimamud er die Kehle schmiere.
Denn