Das Verschwundene Tal. Dietmar Preuß
als nächster an Gaiana vergehen wollte, hieb ich mit einem einzigen Schlag entzwei. Die anderen Schweine waren so überrascht, dass wir vier von ihnen ohne Gegenwehr töteten. Danach stand das Verhältnis nur noch zwei zu eins gegen uns. Wir waren blind vor Verzweiflung und spürten keine Schmerzen. Die beiden älteren Brüder fielen, aber ich tötete noch fünf von diesen Hunden. Mit dem Jüngsten Rücken an Rücken schlug ich um mich, und als nur noch der Anführer übrig war, schwang er sich auf sein Kamel und floh.“
Hauptmann Doriah hatte schon oft Männer im Blutrausch erlebt und konnte sich gut vorstellen, wie der Schmied mit seinen gewaltigen Kräften unter diesen Verbrechern gewütet hatte. Gegen einen solchen Berserker hätte auch der härteste Mann seiner Garde schlechte Chancen gehabt.
Rayols Augen sahen an einen weit entfernten Ort. „Er ritt geradewegs in die Arme der Stadtwache, die von der Familie alarmiert worden war. Ich ging zu dem Zelt hinüber, das die schrecklichen Schandtaten bedeckt hatte, und fand meine liebliche Gaiana in zerfetzten Kleidern und mit blutigem Schoß. Ihre Augen waren offen, aber sie sprach nicht, sie sah mich nicht, sie erkannte auch nicht ihren kleinen Bruder, der aus vielen Wunden blutete. Gaianas Vater stand auf einmal hinter mir, und ich übergab ihm seine Tochter, denn in diesem Moment packten mich die Wachen.
Ich konnte erst wieder klar denken, als ich drei Tage später vor dem Büttel stand. Ich leugnete meine Taten nicht, und als ich hörte, dass Gaiana in den vergangenen Tagen weder die Augen geschlossen, noch ein Wort gesagt hatte, war mir mein Leben gleichgültig. Im Hospital des Jungen Tengris hatte man nichts für sie tun können und dem Vater der vielfach geschändeten Tochter empfohlen, auf die Zeit zu vertrauen. Für den sechsfachen Totschlag wurde über mich das Todesurteil verhängt. Dem kleinen Bruder musste nach dem Kampf eine Hand abgenommen werden, und er ging ohne weitere Strafe aus.“
Das bärtige Gesicht Rayols verbarg seinen Schmerz, aber Moamin Doriah vermochte hinter diese Maske zu sehen. Er konnte die Rachetat nachvollziehen, hätte selbst vielleicht nicht anders gehandelt. Aber der Schmied hatte gegen das Gesetz verstoßen, indem er sich zum Richter und Henker erhoben hatte. Ewige Blutrache war der Grund für die endlosen Unruhen der letzten Jahre und war von der Familie der Shahim geächtet worden.
Die Männer schwiegen eine Weile, dann ergriff der Hauptmann das Wort. „Du hast das Recht selbst in die Hand genommen und sechs Männer erschlagen.“
„Ich leugne es nicht.“
„Diese Verbrecher verdienten den Tod und hätten nach einer ordentlichen Verhandlung am Dorn gezappelt, bis ihnen die Augäpfel geplatzt wären. Auch wenn du gegen das Gesetz verstoßen hast, halte ich dich für einen ehrlichen Mann. Für das, was sie deiner Verlobten angetan haben, gibt es keine passende Strafe.“
Der Schmied nickte mit unendlichem Hass in den Augen. Wehe dem letzten Vergewaltiger, wenn er ihn in seine Pranken bekam. Doriah verschwieg, dass der Anführer der Gauklertruppe entkommen war, denn jetzt kam es darauf an, Rayol Jamsillah auf seine Seite zu ziehen. „Ich könnte dich vor dem Tod bewahren.“
„Der Tod ist mir egal. Ich konnte meine Geliebte nicht schützen, jetzt erträgt sie ein schlimmeres Schicksal als den Tod. Wäre ich nicht auf Wanderschaft gegangen, hätte es kein Fest gegeben. Ohne Fest keine Akrobaten. Und Gaiana hätte diese stinkenden Tiere nicht auf sich ertragen müssen. Für mich gibt es im Diesseits nichts mehr. Hängt mich an den Dorn oder schlagt mir den Kopf ab, es soll mir gleich sein.“
Eine schlichte Feststellung, ohne die Absicht, Mitleid zu erheischen, erkannte Moamin Doriah. Und deshalb ist er genau der Mann, den ich brauche. „Gerade weil der Tod dir gleichgültig ist, brauche ich, braucht der Khan deine Dienste.“
„Warum gerade meine? Ich bin weder Soldat noch Spion.“
„Das will ich dir erklären, aber lass mich ein wenig ausholen.“ Der Hauptmann sah sich in seinem kargen Raum und, bis sein Blick auf der Landkarte von Shuyuk hängenblieb. „Bis vor einigen Jahren hat ein Großgrundbesitzer namens Ssadec Tabar immer wieder gegen den Ilkhan in Gidda und den Khan von Chasar intrigiert und böse Gerüchte in Umlauf gesetzt. Mehrmals hat Halef ibn Shahim ihn ermahnt, aber er hat keine Ruhe gegeben und wurde schließlich von seinem Land vertrieben. Er floh und fand Unterschlupf in der Nähe von Shuyuk, am Fuße des Tengriswalls. In ganz Scimmien warb er Söldner, Beutelschneider und Totschläger an. Sogar aus den Greiflanden fanden Männer und Frauen zu ihm. Es heißt, er herrsche wie ein König über seine Horde in einem verschwundenen Tal. Zunächst vermutete ich, er sei zu einem der vielen Wegelagerer geworden. Aber inzwischen weiß ich, dass auch ehemals ehrbare Handwerker, Bauern und Reisige in die engen, verwinkelten Täler im Westen ziehen. Offenbar strebte Tabar nach mehr als Beute und Reichtum. Dieser selbsternannte Räuberkönig will der neuen Ordnung möglichst viel Schaden bereiten, um sich so für den Verlust von Stand und Land zu rächen. Dabei ist der Frieden nach den Erbfolgekriegen immer noch äußerst brüchig und eher ein unsicherer Waffenstillstand, wie du weißt. Ob dieser sogenannte Räuberfürst seinen Reichtum mit den Armen und Elenden teilt, wie oft behauptet wird, oder ob das nur Blendwerk ist, um seine Anhänger gefügig zu machen, kann ich nicht abschätzen. Doch Tabar schickt unablässig Meuchelmörder, Räuber und Erpresser aus. Einflussreiche Personen in den Dörfern und Städten im Norden werden beseitigt oder korrumpiert. Ein Flechtwerk von Anhängern ist entstanden, das ihm immer frechere Schritte erlaubt. Kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn wir diesen Mann weiter schalten und walten lassen?“
Rayol Jamsillah nickte.
„Daher brauche ich jemand, der sich dieser Bande zum Schein anschließt und in dieses sogenannte Verschwundene Tal hineinkommt, wie es allerorts flüsternd und gar ehrfurchtsvoll genannt wird. Wenn es nicht gelingt, Tabar zu beseitigen, so muss ich wenigstens von seinen Mitteln und Plänen erfahren. Dazu benötige ich einen tollkühnen und kaltblütigen Mann, dem der Tod gleichgültig ist!“
Rayol musste nicht lange über eine Antwort nachdenken.
„Der schnelle Tod unter dem Beil, selbst der am Dorn ist mir gleichgültig. Ich sehne ihn sogar herbei, denn ich habe ihn verdient.“
Doriah hatte noch einen Trumpf. „Wo ist deine Verlobte jetzt?“
„Sie dämmert im Hause ihrer Eltern vor sich hin. Einen Medicus kann sich die Familie nicht leisten, auch wenn Meister Jassim Muktada versprochen hat, einen Teil des Preises zu tragen. Nun stirbt sie Tag für Tag ein kleines Stück, denn sie schläft und isst nicht und ihr Körper siecht dahin.“ Die Worte des jungen Schmiedes waren immer leiser geworden, schließlich erstickte seine Stimme.
Hauptmann Doriah nickte und stand auf. „Ich habe mit dem Medicus und den Schamanen des Khans gesprochen. Sie halten es für möglich, einen Vergessenszauber auszuüben, so dass deine Gaiana nicht mehr an das denken muss, was ihr angetan wurde. Im Kloster des jungen Tengris könnte man sie durch einen Blickzauber dazu bringen, ihren inneren Frieden zu finden. Wenn sie wieder isst und schläft und zu Kräften kommt, werden die Geweihten ihr behutsam erklären, was passiert ist und wie sie damit leben kann.“
Zum ersten Mal erschien Hoffnung im Blick Rayols. „Und ihr würdet das veranlassen, wenn ich mich bereit erkläre, nach Shuyuk zu gehen?“ Er sprach mit flehendem Unterton.
Doriah wusste, dass er sein Ziel erreicht hatte. „Das würde der Khan für deine Gaiana tun. Und bevor wir dich in die Höhle des Ogers schicken, werden wir dich einiges lehren, was dir deinen Auftrag auszuführen hilft.“
Rayol Jamsillah war aufgesprungen. „Verfügt über mich, Hauptmann. Für Gaiana will ich gerne Folter und Qual riskieren.“
Viermal hatten die Tengrissöhne zu- und wieder abgenommen, als Rayol Jamsillah sein Bündel packte. Er wollte nicht mehr mit sich führen, als es für einen Schmied in den Wanderjahren üblich war. Sein prachtvolles Schwert, das ihm als sein Gesellenstück überlassen worden war, war das einzig Bemerkenswerte an ihm. Abgesehen von dem mächtigen Brustkorb und den gewaltigen Armen natürlich.
Der einäugige Moamin Doriah, hatte ihm gerade noch einmal seine Befehle eingebläut, die Namen von anderen Kundschaftern, die sich unerkannt in und um Shuyuk aufhielten, abgefragt und ihn im Namen von Recht und Ordnung auf den Weg geschickt. Aber bevor Rayol sich