Die Midgard-Saga - Hel. Alexandra Bauer
wir in diesem Nebel etwas entdecken wollen, ist mir allerdings ein Rätsel“, sagte Juli. Sie streckte den Arm in die Nebelwand, der sofort darin verschwand.
Tom kam näher und tat es Juli gleich. „Das ist wirklich eine verdammt dicke Suppe.“
„Wichtig ist, dass wir uns nicht aus den Augen verlieren. Alles andere wird sich schon zeigen“, brummte Thea.
„Hoffentlich finden wir den Zugang bald. Dort unten ist es sicher wärmer“, erwiderte Tom, die Arme eng um den Körper geschlungen. Seit Stunden war es so unerträglich kalt geworden, dass jeder Atemzug in der Lunge schmerzte.
Die Namensähnlichkeit mag verwirrend sein, aber Hel hat rein gar nichts mit der Hölle zu tun“, entgegnete Thea. „Dunkel soll es in Hel sein und feucht.“
„Na großartig“, murrte Tom.
Grinsend gab Juli ihm einen Knuff. „Du musst dich mehr bewegen, dann frierst du nicht. So! Und jetzt genug geschwätzt! Ich kann es kaum erwarten. Lasst uns einen Gott befreien gehen, damit Ragnarök endlich vom Tisch kommt!“. Mit einem leise ausgestoßenen „Wooohuuu“ trat sie kurzerhand in den Nebel und war verschwunden.
Thea jagte ein Stich durch den Körper. Sofort schossen ihr Wal-Freyas Worte durch den Kopf. „Du wirst nicht nur auf dich, sondern auch auf deine Freunde aufpassen müssen.“ Sowohl Tom als auch Thea riefen panisch nach Juli. Diese reagierte mit Unverständnis. „Ich bin gleich hier! Macht doch nicht so einen Wind“, sagte sie, während sie die Hand aus der Nebelwand streckte und winkte. Thea schnappte Julis Arm und zog sie unverrichteter Dinge zurück.
„Wir müssen darauf achten, dass wir uns nicht verlieren!“, erinnerte Thea eindringlich.
„Ich bin nur einen einzigen Schritt gegangen. Jetzt komm! Dahinter ist gar nicht so eine Suppe. Voll magisch!“
Kaum hatte Juli ihre Worte ausgesprochen, nahm sie Thea mit sich. Thea spürte Toms eisernen Griff, der sich sofort um ihr Handgelenk schloss. Tatsächlich wurde der Nebel nach nur einem Schritt durchlässiger. Beruhigt stellte Thea fest, dass Juli nicht weit gekommen wäre. Eine riesige Gletscherformation türmte sich vor ihnen auf. Schemenhaft zeichnete sie sich vor der Dunkelheit ab.
„Ob das hier das Ende Niflheims ist?“, fragte Juli, während sie die eisige Wand abtastete.
Tom, der ihrem Beispiel folgte, fluchte: „Wenn es nur nicht so verdammt finster wäre. Wie will man hier etwas finden?“
Kurzerhand zog Thea Kyndill aus der Scheide. Wie eine Fackel hob sie das Schwert über ihre Köpfe und erhellte im großen Umkreis den Platz.
Juli drehte sich staunend um, dann lächelte sie. „Unheimlich praktisch, dein Flammenschwert! Ich vergesse immer wieder, für was es alles nütze ist.“
Sie liefen nur wenige Schritte, da streckte Tom die Arme zur Seite aus und blieb abrupt stehen. „Vorsicht!“, warnte er.
Ein schlecht erkennbarer Spalt tat sich im Boden auf. Mit einem ihrer berühmten ‚Wuuuhuuus‘ schob sich Juli an Tom vorbei, um die Öffnung näher zu untersuchen. Kaum hatte sie einen Schritt vorgewagt, gab der Boden unter ihrem Fuß nach. Tom konnte sie gerade noch zurückziehen, bevor Juli mitsamt der abbrechenden Schneeplatte in den Abgrund stürzte.
Thea hieb ihrer Freundin unsanft auf den Arm. „Verdammt, Juli, was ist los mit dir? Kannst du bitte besser auf dich aufpassen! Das wäre fast schief gegangen!“
„Aua!“ Grimmig legte Juli die Hand über die Stelle. „Was schlägst du gleich zu?“
Tom spähte auf Zehenspitzen in den Einschnitt. „Ob es unser Weg ist?“
Thea berührte mit Kyndill den Boden an der Spalte. Sofort schmolz der Schnee um die Klinge und lief in kleinen Wasseradern in den Abgrund. Sorgfältig taute Thea so den Schnee um die Kluft auf, bis der Rand der Gletscherspalte deutlich zu erkennen war. In Kyndills Feuer funkelte sie erst weiß und wechselte dann in ein immer dunkler werdendes Blau, bis sich das Licht im Schwarz der Tiefe verlor.
„Ist das der geheime Weg nach Hel?“, wiederholte Tom seine Frage.
„Hermodr sagte, er sei im Boden zu finden“, nickte Thea. „Aber vielleicht sehen wir uns vorsichtshalber noch einmal nach einer zweiten Öffnung um.“
„Wenn das der Weg nach Hel ist, dann sieht man doch sicher irgendetwas in dem Loch“, brummte Juli. Wieder trat sie vor, was regen Protest, sowohl bei Thea, als auch bei Tom hervorrief. Juli kommentierte es mit einem Lachen.
„Ganz schön dunkel. Kannst du mit Kyndill hineinleuchten?“ Sie reckte den Körper über das Loch und spähte hinein. Plötzlich ruderte sie mit dem Armen und ehe Thea begreifen konnte, wie es passiert war, stürzte Juli in den Spalt. Rasch verhallten ihre Schreie in der Tiefe und wurden von fröhlich ausgestoßenen ‚Wooohuuus’ abgelöst, die sich hörbar entfernten.
„Ich bringe sie um! Ich schwöre, ich bringe sie um!“, knurrte Thea mit einem Blick auf Tom. Dann sprang sie Juli hinterher.
Mit rasender Geschwindigkeit rutschte Thea in die Tiefe. Der Pfad grub sich in einem natürlichen Eiskanal in den Gletscher hinein. Hier und da fiel er unangenehm ab, doch zu ihrer Erleichterung mündete er darauf stets in Geraden, die einen ungebremsten Sturz verhinderten. Thea war aber vernünftig genug, nicht daran zu glauben, dass diese unbeschwerte Rutschpartie bis nach Hel andauern würde. Hektisch versuchte sie, ihre Gedanken zu sammeln, begleitet von Julis fröhlichem Quieken tat sie sich damit aber nicht leicht. Manchmal schien Juli ganz in der Nähe zu sein, dann wieder nicht. Für Thea war es unmöglich, die Entfernung zu schätzen. Zwar hielt sie Kyndill über ihren Kopf, doch das verschaffte eher Tom Licht, der unweit hinter ihr folgte. Thea schärfte ihre Sinne. Wo immer dieser Sturz enden würde, sie musste es schaffen, vorher an Juli heranzukommen. Allerdings sah es nicht danach aus, dass ihre Freundin daran interessiert war, anzuhalten.
„Juli! Bleib stehen! Hörst du? Halt dich fest!“, schrie Thea, doch es kam keine Antwort. Die stille Hoffnung, dass es Juli irgendwie gelingen würde, sich im Eis festzukrallen, erstarb mit jedem Meter, den Thea in die Tiefe glitt. Sie schloss die Augen, schickte ihrer Freundin einen Gedanken, aber drei weitere ‚Wuuuhuuus’ machten Thea klar, dass sie Julis Geist nicht erreichte.
„Teufel Juli! Du bist und bleibst ein verbohrtes Rindvieh!“, schimpfte Thea. Jäh schoss ihr eine Idee durch den Kopf. Vieh! Umständlich fingerte sie mit der freien Hand in einer ihrer Taschen, warf das Pulver – und rauschte an ihm vorbei, ehe sie eine Rune hineinmalen konnte.
„Verdammt, verdammt, verdammt!“, fluchte Thea.
Sie steckte Kyndill zurück in die Scheide und stellte verbittert fest, dass dies ebenfalls zu ihren schlechteren Einfällen zählte. In völliger Finsternis war es ihr unmöglich, auch nur ansatzweise eine Rune in den Staub zu zeichnen. Sie zog Kyndill wieder hervor, hielt es über sich und drehte sich auf den Bauch. Erst dann griff sie hinter den Rücken und zückte den Dolch, den ihr Wal-Freya mit der Rüstung überlassen hatte. Mehrmals schlug sie die Klinge vergeblich in den Untergrund. Sie war einfach zu schnell! Fluchend wandte sie sich um und hieb die Hacken in den Boden. Nachdem sich auch das als sinnlos herausstellte, steckte sie Kyndill abermals weg, legte sich zurück auf den Bauch und versuchte ihren Sturz erneut zu stoppen, indem sie den Dolch mit beiden Händen umschlossen in den Gletscher trieb. Wirkungslos schnitt das Messer ins Eis, ohne Theas Geschwindigkeit zu verringern. Schreiend brachte sie ihren Unmut zum Ausdruck, schob den Dolch in die Hülle und rollte sich wieder auf den Rücken. Aufs Neue holte sie eine kleine Menge des Pulvers aus der Tasche. Diesmal verteilte sie es großflächig auf der Hand und malte Fehu hinein. Noch nie hatte sie beobachtet, dass Wal-Freya Runen auf diese Weise zur Hilfe nahm, aber es musste einfach funktionieren. Sie schloss die Hand, warf den Staub hoch und drehte sich um. Tatsächlich schimmerte das Zeichen hinter ihr in der Luft. Rasch hob sie die Hand. Sie hatte diesen Zauber stets benutzt, um etwas in Bewegung zu versetzen, sie hoffte inständig, dass man damit auch etwas aufhalten konnte.
„Stopp!“, befahl sie. „Stopp!“
Plötzlich fuhr ein Ruck durch ihren Körper. Ihre Rutschfahrt hörte auf. Gelegenheit,