Die Midgard-Saga - Hel. Alexandra Bauer

Die Midgard-Saga - Hel - Alexandra Bauer


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gegen sie. Sie erwartete, fortgerissen zu werden, doch sie rückte nicht einen Millimeter von ihrem Platz. Tom ächzte.

      „Ich bin es“, erklärte sie. Sie zog Kyndill aus der Scheide.

      Verblüfft hob Tom die Augenbrauen, dann sah er an Thea vorbei, wo der Eistunnel steil in die Tiefe mündete.

      „Wie hast du das gemacht?“, fragte er.

      „Gleich!“, erwiderte Thea, griff abermals in die Tasche, warf das Pulver und malte Fehu hinein. „Stopp!“, rief sie und befahl den Zauber weit in den Abgrund. „Stopp!“

      „Ob das hilft?“, raunte Tom.

      Ein empörter Ruf aus der Ferne gab die Antwort. Thea seufzte erleichtert. „Wie es scheint, ja.“

      „Wahnsinn!“ Lobend knuffte Tom Theas Arm. Diese wollte sich abstoßen, doch ihr Körper wich kein Stück vor. Augenblicklich spürte sie das Blut in ihren Kopf schießen.

      „So geht es natürlich nicht“, erklärte sie verlegen.

      Sie warf ein Pulver und hoffte, dass die Bitte um Beschleunigung nicht zu schnell ausfallen würde. „Weiter!“, sagte sie, während sie die Rune in den Staub malte. Schon löste sie sich und die Rutschpartie begann von Neuem. Tom schlang rasch die Arme um ihre Taille. Thea erschauderte mit der Berührung und wunderte sich über das wohlige Gefühl, das Toms Nähe in ihr auslöste.

      „Ich gebe zu, dass ich kurz Angst hatte“, flüsterte er ihr ins Ohr.

      Thea begriff, dass Tom den Bewegungszauber erkannt hatte, den sie in Baba Jagas Hütte wieder und wieder an Äpfeln geübt und diese dabei reihenweise gesprengt hatte. Sie lachte. „Wie es scheint, beherrsche ich das inzwischen ganz gut.“

      „Ein Glück!“, lachte Tom zurück.

      Kyndill über ihren Köpfen erhoben sausten sie in die Tiefe. Tom hatte sein Kinn auf ihrer Schulter abgelegt. Er frohlockte, als das Gefälle zunahm und Thea gequält quiekte. Dann hörten sie Juli rufen: „Haltet an!“

      Hastig wühlte Thea in ihrer Tasche, doch es war zu spät. Wie kurz zuvor Tom in sie, rasten beide nun in Juli hinein.

      Protestierend heulte Juli auf. „Verflucht und eins! Was soll der Scheiß?“, fluchte sie.

      Theas Gefühle schlugen Purzelbaum vor Freude, gleichzeitig kochte die Wut in ihr hoch. Juli war unversehrt, aber sie hatte genau das getan, wovor Wal-Freya gewarnt hatte! „Du Idiotin! Wirklich! Ich weiß nicht, ob ich dich knutschen oder ob ich dir eine reinhauen soll“, knurrte Thea.

      „Glaubst du, das war Absicht?“, motzte Juli. Dann grinste sie und warf ihre Arme um ihre Freundin. „Das war so affenstark! Wenn wir zurück sind, müssen wir das unbedingt noch einmal machen!“

      Während Thea das Gesicht in den Händen vergrub, rollte Tom ungläubig die Augen.

      „Wie schön, dass du dich amüsierst!“, rief Thea aufgebracht.

      Juli lachte. „Das war es wert! Du hättest dich mal sehen sollen! Du kamst mir hinterhergeschossen wie der Halleysche Komet.“

      Thea zog eine Schnute und versuchte sich von der Fröhlichkeit Julis nicht anstecken zu lassen. „Ich hatte Todesangst um dich!“

      „Das ist etwas Neues! Wenn ich das nächste Mal in eine Achterbahn steige, wünsche ich mir, dass du mir auch in Todesangst folgst. Danach will ich dich genauso wütend sehen, statt kreideweiß gegen Übelkeit ringend!“ Sie warf sich zurück und hielt sich den Bauch vor Lachen. Als Tom mit einfiel, war es auch um Thea geschehen. Kichernd steckten sie sich gegenseitig in ihrer Ausgelassenheit an, bis sie erschöpft um Atem rangen.

      Irgendwann seufzte Juli. „So schön das hier mit euch auch ist, mir friert der Hintern.“ Sie richtete den Blick gleichzeitig mit Thea den Spalt hinab. Noch immer klaffte tiefes Schwarz vor ihnen. Unerwartet drehte sich Juli um und versetzte Thea mit der flachen Hand einen Schlag auf den Arm. „Wie ist das überhaupt möglich, dass ich hier wie angewurzelt hocke? Das ist gewiss deine Schuld! Hast du mir etwas angezaubert?“

      „Angezaubert?“, wiederholte Thea die Frage, derweil sie nach der Antwort suchte. Offen gestanden wusste sie nicht, wie sie Juli zum Anhalten gebracht hatte. Thea war einfach ihrem Gefühl gefolgt. Allmählich begriff sie, was Wal-Freya damit meinte, dass Zauberei stets anders sei. „Ich habe keine Ahnung. Aber es hat funktioniert.“

      Abermals traf sie Julis Hand. „Spinnst du? Was, wenn du mich in die Luft gejagt hättest wie deine Äpfel?“

      Während Thea unter den scharfen Augen ihrer Freundin nach Worten rang, lenkte ein Glucksen Julis Blick zu Tom. Der duckte sich. „Tut mir leid. Du müsstest dich selber sehen.“

      „Das ist nicht witzig! Ich verbiete dir, noch einmal mit mir oder an mir zu zaubern, Thea!“

      Thea wäre am liebsten im Boden versunken. Sie kannte Julis Abneigung und Ängste gegen Zauberei. Sie war so alt wie die Verbundenheit ihrer Seelen.

      „Was ist so lustig?“, schimpfte Juli.

      Tom legte die Hand vor den Mund. „Sie wird das tun müssen, wenn du hier nicht für alle Zeiten festkleben willst.“

      „Was?“ Julis Zorn traf Thea mitten ins Herz. Entschuldigend presste sie die Lippen zusammen.

      Tom hob beschwichtigend die Hände. „Nur keine Angst! Sie hat gerade in einem Selbstversuch bewiesen, dass sie es kann. Sie ist noch in einem Stück, wie du siehst.“

      „Sie ist übrigens anwesend“, knurrte Thea, griff in die Tasche und warf das Pulver in die Luft. Ehe sie die Rune hinein zeichnen konnte, wedelte Juli mit den Händen.

      „Woh, woh, woh! Moment mal!“, protestierte sie. „Ich habe mein Einverständnis nicht erteilt!“

      Thea schenkte ihrer Freundin einen mitleidvollen Blick. Ihr blieb nichts anderes übrig. Erneut schob sie die Hand in die Tasche, warf das Pulver und malte Fehu hinein. Während Juli lauthals reklamierte, beschwor Thea den Zauber.

      „Zu Hölle, Thea …“ Julis Ruf entfernte sich ebenso schnell, wie sie aus dem Licht Kyndills entschwand.

      „Hinterher! Sonst entkommt sie!“, lachte Tom. Schon umfasste er Theas Taille, rutschte vor und gab ihr mit seinem Körper einen Schubs. In halsbrecherischer Geschwindigkeit sausten sie hinab, Juli dicht auf den Fersen, die ohne Unterlass zeterte.

      „Sie wird mich dafür hassen“, jammerte Thea.

      „Zehn Minuten lang, dann hat sie es vergessen“, prophezeite Tom.

      Irgendwann hatten sie Juli eingeholt. Thea schnappte sie am Kragen und zog sie zu sich heran.

      „Glaube ja nicht, dass ich dir diesmal so schnell verzeihen werde!“, kündigte Juli an.

      „Es tut mir leid“, erwiderte Thea.

      Juli tätschelte Theas Hand. „Ach was! Ich mach nur Spaß!“

      Mit Kyndill als einziger Lichtquelle führte sie ihr Weg weiter in die Tiefe. Thea fand das Gefühl unerträglich! Nach zwei Begegnungen mit den nordischen Göttern, in denen sie gezwungen war auf Himmelswagen zu reisen, in einen Brunnen zu springen, als Falke und Schneeeule zu fliegen, und zu guter Letzt auf einem fliegenden Pferd zu reiten, sollte sie sich an das unangenehme Kribbeln, das ihr während dieser Erlebnisse durch den Magen fuhr, gewöhnt haben, doch es wollte ihr nicht gelingen. Dennoch war sie stolz, denn sie war Juli ohne Zögern in den Spalt hinterher gesprungen, obwohl sie geahnt hatte, was sie erwartete. Anfänglich hatte sie gehofft, sie würde sich an das widerliche Gefühl gewöhnen, welches ihr mit jedem neuen Gefälle in den Magen fuhr, aber je länger dieses Martyrium andauerte, umso größer wurde ihre Gewissheit, dass sie sich damit niemals anfreunden würde.

      Irgendwann vernahmen die Freunde ein Rauschen, das lauter wurde. Thea wurde zunehmend von Unruhe gepackt. Ebenso wie sie vermuteten ihre Freunde, dass das Geräusch von Wasser herrührte, dass es der Gjöll war, der sich durch den Felsen grub. Thea ging im Geiste den Zauber


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