TARZAN IN GEFAHR. Edgar Rice Burroughs
»Wer sagt, dass Om-at nicht Häuptling ist?«
Er wartete, ob jemand die Herausforderung annahm. Ein oder zwei der jungen Krieger waren unruhig und sahen ihn prüfend an, aber niemand antwortete.
»Dann ist Om-at Häuptling«, sagte er abschließend. »Nun sagt mir, wo sind Dunkle Blume, ihr Vater und ihre Brüder?«
Ein alter Krieger antwortete ihm. »Dunkle Blume muss in ihrer Höhle sein. Wer sollte das besser wissen als du, der du da oben bist? Ihr Vater und ihre Brüder wurden fortgeschickt, die Kor-ul-lul zu erkunden. Aber keine dieser Fragen erregt unsere Herzen. Uns beunruhigt etwas anderes: Kann Om-at unser Häuptling sein und sich doch mit einem Ho-don und jenem schrecklichen Mann an seiner Seite gegen sein eigenes Volk zur Wehr setzen - mit jenem schrecklichen Mann, der keinen Schwanz hat? Übergib die Fremden deinem Volk, damit wir sie erschlagen können, wie es der Brauch der Waz-don ist, danach mag Om-at Häuptling sein.«
Weder Tarzan noch Ta-den sprachen, aber sie beobachteten Om-at und warteten auf seine Entscheidung. Die Spur eines Lächelns spielte um die Lippen des Affenmenschen. Ta-den jedoch wusste, dass der alte Krieger die Wahrheit gesprochen hatte - die Waz-don empfingen keine Fremden und machten keine Gefangenen anderer Rassen.
Da sprach Om-at. »Alles wird sich ändern. Sogar die alten Berge erscheinen jedes Mal anders - denn die strahlende Sonne, eine vorüberziehende Wolke, der Mond, ein Nebel, die wechselnden Jahreszeiten, die plötzliche Ruhe nach einem Sturm, alle diese Dinge bringen etwas Neues in unsere Berge. Von der Geburt bis zum Tode, Tag für Tag, sind auch wir in ewigem Wechsel begriffen, jeder von uns. Veränderung ist daher eines der Gesetze unseres Gottes. Und heute bringe ich, Om-at, euer Häuptling, einen neuen Fortschritt. Fremdlinge, die tapfere Männer sind und gute Freunde, sollen von den Waz-don nicht mehr erschlagen werden!«
Brummen, Gemurmel und eine rastlose Unruhe erfasste die Krieger. Einer schaute den anderen an, um zu sehen, wer zuerst gegen Om-at, den Umstürzler und Reformator, auftreten würde.
»Lasst eurer Gemurmel«, befahl der neue Häuptling. »Ich bin euer Häuptling. Mein Wort ist Gesetz. Ihr hattet keinen Anteil daran, dass ich Häuptling geworden bin. Einige von euch haben Es-sat geholfen, mich aus der Höhle meiner Ahnen zu vertreiben. Die anderen haben es geduldet. Ich schulde euch nichts. Nur diese beiden, von denen ihr verlangt, dass ich sie töte, sind mir ergeben gewesen. Ich bin Häuptling, und wenn einer von euch es bestreitet, so möge er reden - er kann nicht jünger sterben.«
Tarzan war zufrieden. Hier war ein Mann nach seinem Herzen. Er bewunderte die Furchtlosigkeit Om-ats. Er besaß genügend Menschenkenntnis um zu wissen, dass keine Schwachheit hinter Om-ats Worten zu finden war. Om-at würde, falls notwendig, bis zum Tode für sein Wort geradestehen und die Chancen, dass er nicht derjenige war, der unterliegen würde, standen für ihn. Offensichtlich war auch die Mehrzahl der Krieger der gleichen Ansicht.
»Ich werde euch ein guter Häuptling sein«, sagte Om-at, als er sah, dass sich niemand erhob, um sein Recht zu bestreiten. »Eure Frauen und Töchter werden sicher sein - sie waren es nicht, während Es-sat regierte. Geht nun an eure Arbeiten auf dem Felde und bei der Jagd. Ich gehe, um Dunkle Blume zu suchen. Ab-on wird Häuptling sein solange ich fort bin. Fragt ihn um Hilfe und mich um Rechenschaft, wenn ich wiederkomme - möge euch Jad-ben-Otho, unser Gott, freundlich zugeneigt sein.«
Darauf wandte er sich zu Tarzan und dem Ho-don. »Und ihr, meine Freunde, könnt euch unter meinem Volk bewegen. Die Höhle meiner Ahnen steht euch zur Verfügung, tut was ihr wollt.«
»Ich werde mit Om-at gehen, um Dunkle Blume zu suchen«, sagte Tarzan.
»Ich auch««, fügte Ta-den hinzu.
Om-at lächelte. »Gut!«, rief er aus. »Und wenn wir sie gefunden haben, werden wir zusammen die Pläne Tarzans und Ta-dens verwirklichen. Wo fangen wir an zu suchen? Er wandte sich an seine Krieger: Wer weiß, wo sie sein kann?«
Aber keiner wusste mehr zu berichten, als dass Dunkle Blume am vergangenen Abend mit den anderen zur Höhle gegangen war - es gab keinen Anhalt und keine Vermutungen darüber, wo sie sich befinden konnte.
»Zeige mir, wo sie schläft«, sagte Tarzan. »Lass mich etwas sehen, was ihr gehört - ein Kleidungsstück - dann kann ich dir zweifellos helfen.«
Zwei junge Krieger kletterten zu dem Vorsprung, auf welchem Om-at stand. Es waren In-sad und O-dan. Der letztere sprach.
»Häuptling«, sagte er. Wir möchten mit dir gehen und Dunkle Blume suchen helfen.
Dies war die erste Anerkennung der Häuptlings würde Om-ats, und sofort schien sich die Spannung zu lösen, die bisher über der Versammlung gelegen hatte - die Krieger sprachen laut, statt zu flüstern, und die Frauen kamen aus den Öffnungen der Höhlen, als ob sich ein plötzlicher Sturm verzogen hätte. In-sad und O-dan hatten die Initiative ergriffen, und nun schienen alle froh, ihrem Beispiel folgen zu können. Einige kamen, um mit Om-at zu sprechen und sich Tarzan aus der Nähe zu betrachten. Andere, Oberhäupter der Höhlen, versammelten ihre Männer und besprachen die Arbeit des Tages. Frauen und Kinder bereiteten den Abstieg zu den Feldern vor, ebenso die Jünglinge und Greise, deren Pflicht es war, sie zu beschützen.
»O-dan und In-sad werden mit uns gehen«, gab Om-at bekannt. »Mehr brauchen wir nicht. Komm, ich werde dir zeigen, wo Dunkle Blume schläft, obgleich ich nicht weiß, warum du das wissen willst - sie ist nicht da. Ich habe selbst nach ihr gesucht.«
Die beiden betraten die Höhle, wo ihm Om-at den Weg zu dem Gemach zeigte, in welchem Es-sat Dunkle Blume in der vergangenen Nacht überrascht hatte. »Alles in dieser Höhle gehörte ihr«, sagte Om-at, »nur die Keule auf dem Boden gehörte Es-sat.«
Der Affenmensch ging schweigend durch die Höhle. Das Vibrieren seiner feinen Nüstern war seinem Gefährten nicht bemerkbar. Dieser fragte sich vergebens, was man hier finden könne und beklagte den Aufschub.
»Komm!«, sagte der Affenmensch schließlich und schritt mit ihm zur äußeren Plattform voraus.
Hier erwarteten sie ihre drei Gefährten. Tarzan ging zur linken Seite und prüfte die Haken, welche dort lagen. Er sah sie zwar an, aber es waren nicht seine Augen, die sie prüften. Schärfer noch als seine ausgezeichneten Augen war der wunderbar entwickelte Geruchssinn, der von frühester Kindheit an unter der Leitung seiner Pflegemutter, Kala, der Äffin, geschult worden war, und der im Leben des grausigen Dschungels vom besten aller Lehrmeister - dem Selbsterhaltungstrieb, die letzte Vollendung erfahren hatte. Von der linken Seite des Vorsprungs wandte er sich zur rechten. Om-at wurde ungeduldig.
»Lass uns gehen«, sagte er. »Wir müssen Dunkle Blume suchen, wenn wir sie finden wollen.«
»Wo sollen wir suchen?«, fragte Tarzan.
Om-at kratzte seinen Kopf. »Wo?«, wiederholte er. »Nun, im ganzen Land des Menschen, falls notwendig.«
»Das ist eine große Aufgabe«, meinte Tarzan. »Komm««, fügte er hinzu, »hier ist sie hochgestiegen.« Er kletterte die Haken empor, die zum Gipfel des Felsens führten. Hier konnte er der Spur sehr leicht folgen, da seit der Flucht der Dunklen Blume noch niemand diesen Weg genommen hatte. An der Stelle, wo sie die festen Haken verlassen und sich auf denjenigen fortbewegt hatte, die sie bei sich führte, hielt Tarzan an. »Sie hat diesen Weg zur Anhöhe genommen«, rief er Om-at zu, der dicht hinter ihm war, »aber hier befinden keine Haken!«
»Ich weiß nicht, woher du weißt, dass sie diesen Weg gewählt hat«, sagte Om-at, »aber wir werden Haken bekommen. In-sad, geh zurück und hole Kletterhaken für uns.«
Der junge Krieger war bald zurück und verteilte die Kletterhaken. Om-at gab Tarzan fünf Stück und erklärte ihren Gebrauch. Der Affenmensch gab einen zurück. »Ich brauche nur vier«, sagte er.
Om-at lächelte. »Was für ein wunderbares Geschöpf könntest du sein, wenn du nicht verkrüppelt wärest«, sagte er und schaute voller Stolz auf seinen eigenen starken Schwanz.
»Ich gebe zu, dass ich im Nachteil bin«, erwiderte Tarzan. »Ihr anderen müsst voraus gehen und die Haken für mich stecken lassen. Ich fürchte, dass wir sonst sehr langsam vorankommen werden, da ich