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werden sie sein. Ich gehe nach unten um zu öffnen“. Kurz darauf taucht Wolfgang mit zwei Jungen auf, die etwas älter als er und Thomas sind, aber auch die 28. Grundschule besuchen.

      „Ihr kennt euch ja alle“, stellt sie einander Wolfgang vor.

      Die Jungen unterhalten sich über das Fernsehprogramm und über Filme, die Thomas nicht kennt. Seine Eltern besitzen keinen Fernsehapparat. Sie tauschen ihre Gedanken aus über ihre Englisch-, Französisch- und Lateinstunden, die sie bei Privatlehrern erhalten. Sie sind sich einig darüber, dass die Kenntnis von Fremdsprachen notwendig sei, um im späteren Berufsleben Karriere machen zu können. Thomas kommt aus dem Staunen nicht heraus. Die Jungen haben klare Vorstellungen von ihrer Zukunft, sie wissen genau, welchen Beruf sie einmal ergreifen wollen. Thomas weiß noch nicht, was er einmal werden soll, er weiß nur, dass er keinen Handwerksberuf erlernen wird, weil er zwei linke Hände hat, wie seine Eltern immer wieder betonen. Die Jungen wechseln das Thema. Sie sprechen über Musik, über ihren Klavierunterricht. Thomas kennt keine Noten, er weiß nicht, was ein Notenschlüssel ist. Der Begriff Partitur ist ihm fremd. In der Gemeinschaft dieser Jungen fühlt er sich nicht wohl. Die Gründe kann er nicht in Worte fassen, weil er nicht einmal die Ursachen für dieses unaussprechliche Unbehagen kennt. Ihn bedrängt die Vorstellung, diesen Jungen weit unterlegen zu sein.

      Nach dem Abendbrot wird gespielt. Auch Wolfgangs Eltern beteiligen sich daran. Nach dem Allgemeinwissen wird gefragt. Wann welcher Dichter geboren oder gestorben ist oder beides, welche Werke er geschrieben hat, Zahlen und Ereignisse aus der Geschichte stehen im Mittelpunkt, aber auch die Kenntnisse in den Naturwissenschaften werden geprüft. Thomas bildet mit Abstand das Schlusslicht. Er spürt, wie eine große Traurigkeit in ihm aufsteigt, er muss die Tränen unterdrücken.

      Es ist dunkel, als er sich von Wolfgang, dessen Eltern und Wolfgangs Freunden verabschiedet. Die Straßenlaternen weisen ihm den Weg. Er lässt die Märchenwiese hinter sich zurück, in der Wolfgang und dessen Freunde zu Hause. sind. Eine tiefe, fast unheimliche Stille umgibt Thomas. Die Grundstücke hinter den mit dichten Hecken bewachsenen Zäunen grenzen Thomas aus, gewähren ihm keinen Einblick. Hier ist er ein Fremder. Die Märchenwiese gehört Wolfgang und dessen Freunden.

      Einsam sucht sich Thomas seinen Weg, seine Gedanken kreisen um sein Nichtwissen. Er überlegt, wie er sich auch dieses Wissen und noch anderes Wissen, das Wolfgang und dessen Freunde nicht haben, aneignen kann. Er sucht nach Möglichkeiten, wie er diese Zielstellung verwirklichen kann.

      Am Ende der Sommerferien erhält Thomas einen Brief. Die Briefmarke auf dem Umschlag signalisiert ihm, woher der Brief kommt. Die Schrift auf dem Umschlag ist ihm vertraut. Wolfgang meldet sich. Thomas liest den Brief mehrmals, bis er versteht, dass er Wolfgang nie wieder sehen wird. Wolfgang hat mit seinen Eltern die Märchenwiese verlassen. Andere folgen ihnen. Auch Wolfgangs Freunde mit ihren Eltern nehmen Abschied von der Märchenwiese, lassen zurück den Garten, das Haus, die Möbel, vielleicht auch die vielen Erinnerungen. Thomas stellt sich die Frage, warum seine Eltern bleiben. Sie besitzen kein Haus mit einem großen Garten. Er fragt seine Eltern nach dem Grund, nur erhält er keine Antwort.

      Nikolai hält inne, denkt nach. Oft hat der Großvater den Namen Wolfgang erwähnt. Nikolai erinnert sich. Einmal hat ihm der Großvater erzählt, dass er diesem Wolfgang im Leipziger Schauspielhaus begegnet sei, als er Student war. Höchst überrascht sei er gewesen, als er erkennen musste, dass Wolfgang von Statur kleiner war als er. Und dann hatte ihm der Großvater die Geschichte erzählt, als er noch gemeinsam mit seinen Eltern in der Hofer Straße im Meyerschen Viertel gewohnt hatte. Bis in alle Einzelheiten hatte sich ihm dieses Bild eingeprägt.

      Es klingelt. Er öffnet die Wohnungstür und vor ihm steht ein schick gekleideter, junger Mann, fast zwei Köpfe größer als er. Thomas ist überrascht und verwirrt zugleich. Er erkennt sofort den vor ihm stehenden Riesen in dem modernen Anzug, dem weißen Hemd, der Krawatte, deren Farbe er nicht kennt. Den Mantel trägt er offen. Der Kragen ist hochgeschlagen. Der Besuch aus dem Westen überreicht ein Buch. „Schach von Wuthenow“ heißt es. Wolfgang lädt seinen ehemaligen Klassenkameraden Thomas ein, ihn in der Märchenwiese zu besuchen. Thomas folgt der Einladung. Er zieht sich schick an: die neuste Trainingshose mit Reißverschlüssen rechts und links außen an den Beinen, sein Sonntagshemd und den Wintermantel, der zwar viel zu warm für die Jahreszeit ist, aber er war fast wie neu, als er ihn von seinem älteren Cousin erhielt. Auf dem Weg zur Märchenwiese wird ihm unangenehm warm in diesem Mantel, aber Thomas weiß, wer schön sein will, muss leiden. Ganz deutlich kann er sich an diesen Satz seiner älteren Schwester Helga erinnern. Und nun leidet er auf dem langen Weg zu Wolfgang, wundert sich dabei, dass die Menschen, denen er begegnet, recht sonderbar lächeln.

      Viele Jahre mussten vergehen, bis sie sich im Leipziger Schauspielhaus gegenüberstehen. Und nun überragt Thomas um einige Zentimeter den Schulfreund von einst. Wolfgang hatte den Kontakt abgebrochen. Thomas hatte noch zwei Briefe geschrieben, die der schreibgewandte Schulfreund von einst nicht beantwortete. Mutter Boronski sagte nur: Aus den Augen aus dem Sinn! So ist das Leben, mein Junge. Trauere ihm nicht nach. Noch oft wird es dir so im Leben ergehen, dass Freunde einfach so verschwinden. Ihnen musst du keine Träne nachweinen. Sie waren eben keine Freunde, nur Bekannte, die dich eine Wegstrecke in deinem Leben begleitet haben.“ Nur kurz und knapp unterhalten sie sich. Wolfgang ist diplomierter Philosoph, hat in Frankfurt und Hamburg studiert, schreibt an seiner Doktorarbeit. Was Thomas macht, will er gar nicht wissen. Persönlich sind sie sich nicht wieder begegnet.

      Nikolai erinnert sich, dass der Großvater später im Zeitalter der Computer ihm erzählte, dass er dem Namen seines Freundes aus fernen Kindertagen im Internet begegnet sei. Philosophie gehörte zu den Hobbies des Großvaters. Lachend hatte er dem Enkel die Geschichte zum Besten gegeben: „In Hanau war es gewesen. An der Berufsfachschule. Wir lehrten beide in den Klassen der künftigen Erzieherinnen und Erzieher. Wir saßen im Lehrerzimmer, und ich gab meinem Affen Zucker, ließ mich über Gott und die Welt aus. Er lachte über meine Späßchen, fragte, ob ich Philosoph sei. Natürlich, sagte ich. Nur für einen Philosophen sei die Welt erträglich, vorausgesetzt er hat als Individuum die für ihn einzig und allein gültige Philosophie entdeckt. Viele Philosophen gibt es, demzufolge auch viele Philosophien. Dagegen sei nichts einzuwenden, solange diese Philosophen keinen Schaden anrichten und ihre Mitmenschen bekehren wollen. Der junge Kollege offenbarte sich dem Großvater. Er sei studierter Diplom-Philosoph, aber trotz seines bombastischen Abschlusses hätte er keine Anstellung gefunden. Da er nicht als Taxifahrer wie andere einstige Kommilitonen arbeiten wollte, manche von denen hätten gar promoviert, hätte er sich für das Fach Deutsch als Fremdsprache entschieden und eine weitere Zusatzausbildung absolviert und ein weiteres Stück Papier mit Auszeichnung erworben. Großvater nannte ihm den Namen seines einstigen Klassenkameraden aus den fernen Kindertagen. Für den Diplom-Philosophen war der Name kein Begriff. Großvater belehrte ihn, dass sein einstiger Freund nunmehr die Titel Professor und Doktor habe und eine private Lehranstalt in der Schweiz. Der zum Berufsschullehrer mutierte Diplom-Philosoph winkte ab und sagte: Vielleicht hat ihr einstiger Freund Glück und kann seine Philosophie gewinnbringend auf dem Bildungsmarkt verhökern. Jedenfalls für mich ist er kein Begriff. Noch nie habe ich von ihm gehört. Großvater nahm im Internet oft Kontakt mit seinem ehemaligen Klassenkameraden auf, der völlig vergessen hatte in seiner Vita die Wurzeln seiner Herkunft anzugeben. Er hatte das Land der aufgehenden Sonne in seiner Entwicklung völlig ausgeblendet, mit keinem Wort erwähnt, als hätte dieses Land nie existiert. Nun war der Großvater tot. Nikolai nimmt sich vor über das Internet zu prüfen, ob dieser Dekan, der für ihn kein Begriff ist, noch unter den Lebenden weilt. Jetzt will er erst einmal weiter lesen. Das Wetter ist geradezu ideal dafür. Draußen regnetes in Strömen.

      Thomas kennt die Frau, die im Hausflur liegt. Er kennt nicht den Namen dieser Frau, er kennt sie nur vom Ansehen und weiß, dass sie oft betrunken ist und dann nicht den Weg zu ihrer Wohnung im dritten Stock findet. Mit ihrem Hund, einem Boxer, bewohnt sie eine Wohnung, die einen kleinen Korridor hat. Der Hund begleitet die Frau immer, auch wenn sie nüchtern ist. Wenn die Frau nüchtern ist, sitzt sie auf einer der Bänke in der Nähe des Spielplatzes und schaut den Kindern zu. Die Kinder haben sich an den Anblick der Frau gewöhnt. Sehr dünn ist sie, geradezu zerbrechlich und sehr klein. Der Hund wirkt riesig neben ihr. Die Haut ihres Gesichtes ist fahl. Ihre Haare sind schneeweiß. Manchmal, nicht immer


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