Der Nachlass. Werner Hetzschold

Der Nachlass - Werner Hetzschold


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Kleinsten der Kleinen wagen sich an ihren riesigen Boxer heran und kuscheln sich an sein weiches Fell. Ruhig bleibt der Hund, wenn die Kleinen ihn mit Zärtlichkeiten verwöhnen. Geduldig lässt er ihre vielen Streicheleinheiten über sich ergehen.

      Inzwischen haben sich viele Schaulustige eingefunden, halten Abstand zu der Frau, die von ihrem Boxer beschützt wird. Friedlich, als wäre sie tot, liegt die Frau da, friedlich, aber die Neugierigen nicht aus den Augen lassend, liegt der Hund neben ihr.

      Eine alte Frau, die im gleichen Haus wohnt wie die Frau mit ihrem Boxer, ruft ungeduldig: „Nun tut doch mal etwas, statt hier herumzustehen.“

      Ein junger, kräftiger Mann fühlt sich angesprochen. „Man sollte sie hinauftragen“, sagt er, „sonst erkältet sie sich noch auf den Steinstufen.“ Er nähert sich der Frau.

      Der Hund lässt ihn nicht aus den Augen. Der junge Mann zögert, wagt wieder einige Schritte nach vorn. Der bis dahin friedlich daliegende Hund erhebt sich, zeigt die Zähne. Der junge kräftige Mann tritt den Rückweg an, dabei verkündet er laut: „Ich bin doch nicht lebensmüde.“

      „Der Dürre muss her!“, meldet sich eine Frau in mittleren Jahren zu Wort.

      Der Dürre wird geholt. Sonst trägt er eine Polizeiuniform. Alle im Viertel wissen, er ist ein hohes Tier bei der Polizei, er muss keine Streife gehen.

      Der Dürre erscheint. Ohne zu zögern geht er auf den Hund zu, der sich bei seinem Anblick erhebt, den Dürren schwanzwedelnd begrüßt, die Zähne dabei zeigt, aber so, als wolle er lächeln.

      Der Dürre, der noch dazu klein ist, streichelt den Hund, flüstert ihm etwas Freundliches zu; dann hebt dieser schmächtige, unscheinbare Mann die kleine, schmächtige, unscheinbare Frau in die Höhe, nimmt sie in die Arme wie ein Baby und trägt sie die Stufen hinauf. Unauffällig unaufdringlich folgt ihnen der Hund.

      Eines Tages ist die schmächtige unscheinbare, kleine, weißhaarige Frau aus ihrer großen Wohnung verschwunden. Alle wissen genau, sie ist nicht nach dem goldenen Westen gegangen; aber wohin sie gegangen ist, weiß auch niemand genau. Die Leute reden, ohne zu wissen. Nur alle wissen, nachdem sie fortgezogen ist, dass sie eine Jüdin war, die als einzige ihrer Familie das Konzentrationslager überlebt hat. Auch soll sie eigene Kinder gehabt haben. Im Viertel konnte sich das keiner vorstellen.

      Am Sonntag zieht es die Familie Boronsky in die Natur. Außerhalb der Stadt gibt es Wäldchen, Felder, Wiesen, Teiche, kleine Seen. Familie Boronsky liebt besonders das Oberholz, das mit der Straßenbahnlinie 15 zu erreichen ist. Von Liebertwolkwitz aus führt der Weg zwischen Feldern entlang direkt bis in diese Oase der Maikäfer.

      Thomas ist überzeugt; nirgends in der Welt gibt es so viele Maikäfer wie hier. Nur beginnt und endet die Welt für Thomas in Leipzig und Umgebung.

      Die Zeit der Maikäfer ist vorbei. Jetzt ist die Zeit der Pilze gekommen. Weit auseinandergezogen durchkämmt die Familie den Wald. Thomas hört die Stimme seiner Schwester. Freudig erregt klingt sie. Thomas läuft auf die Stimme zu.

      Und da stehen seine Eltern, seine Schwester Gisela und ein Mann und eine Frau.

      Thomas nähert sich ihnen. Jetzt erkennt er den Mann, obwohl dieser Mann sich sehr verändert hat. Der Mann trägt einen Hut und keine Mütze wie Vater Boronsky. Zwischen dem geöffneten Mantel schiebt sich ein Bauch hervor. So ein Bauch fehlt auch Vater Boronsky.

      Thomas sagt immer: Mein Vater kann ja gar keinen Bauch bekommen, weil er mit dem Körper arbeitet und hinter keinem Schreibtisch sitzt.

      Mit den Worten - „das ist ja der Onkel Erich!“, - stürmt Thomas auf die Gruppe zu. Der Junge stellt fest: Onkel Erich hat sich wirklich verändert. Er ist ein Herr geworden. Nicht nur der Hut gibt darüber Auskunft, sondern sein Anzug, das Hemd, die Krawatte, seine Art, wie er spricht.

      „Aus Kindern werden Leute“, sagt der Onkel Erich.

      Bei diesen Worten verzieht seine Frau ihre schmalen Lippen zu einem schmalen Lächeln. In ihrem Kostüm mit der rosafarbenen Bluse und den Sauerstoff blonden Haaren sieht sie aus wie eine der Damen aus einer Modezeitschrift. Sie erinnert Thomas an Frau Schlundt. Nicht, dass sie wie Frau Schlundt aussieht, im Gegenteil, so attraktiv sah bestimmt Frau Schlundt in ihren attraktivsten Jahren nicht aus, sondern weil sie auch so dünn und lang ist.

      Onkel Erich erzählt. Er arbeitet wieder in seinem alten Beruf. Er ist bei der Post tätig - in gehobener Position, fügt die Frau hinzu.

      Thomas weiß jetzt, dass er nicht an irgendeinem Schalter sitzt, sondern einen eigenen Schreibtisch besitzt mit Sekretärin.

      Immer wieder stellt Thomas fest, wie sich die Leute verändern mit den Jahren. Nur seine Eltern verändern sich nicht. Sein Vater arbeitet immer noch in einer Schlosserei und seine Mutter aushilfsweise als Verkäuferin in einem Bäckerladen.

      „Wir haben uns auch verändert“, sagt der Vater, „wir sind umgezogen - in eine größere Wohnung. Die Wohnung war zu eng geworden.“

      „Wir sind aber im Viertel geblieben“, fügt Mutter Boronsky hinzu.

      „Wir wohnen hier ganz in der Nähe“, sagt Onkel Erich, der eigentlich gar nicht mehr der Onkel Erich ist, der er einmal war - der Kriegsheimkehrer und Untermieter von Frau Schlundt. „In Liebertwolkwitz haben wir ein kleines Häuschen erworben. Mitten im Grünen steht es zwischen Obstbäumen und Sträuchern.“

      „Erich, jetzt müssen wir aber weiter“, drängelt seine Frau, „sonst wird es zu spät mit dem Mittagessen.“

      „Ja, mein Hildchen.“ Die Stimme von Onkel Erich klingt sanft und weich. Dabei streichelt er ihre Hand.

      So etwas tut Vater nie, stellt Thomas fest.

      „Dann wollen wir uns verabschieden“, sagt der Onkel Erich und reicht den Borowskis zum Abschied die Hand.

      „War mir ein Vergnügen, sie alle kennen zu lernen“, flötet Hildchen.

      Thomas zweifelt an dem Vergnügen von Hildchen; er hat eher den Eindruck, dass sie nichts von der Familie Boronsky hält, dass sie, wenn es nach ihr gegangen wäre, jedes Gespräch mit dieser Familie vermieden hätte. Onkel Erich ist eben ein feiner Mann geworden.

      Als Onkel Erich und Hildchen außer Sichtweite sind, sagt Frau Boronsky zu ihrem Mann: „Wie hat sich nur dieser Mann verändert. Hast du seinen Anzug gesehen, das Hemd, die Krawatte, die Schuhe. Und wie läufst du herum. Man muss sich richtig schämen.“

      „Ich bin eben nicht so ein feiner Pinkel“, verteidigt sich Vater Boronsky, „ich mag nun eben mal keinen Schlips. Der drückt mir nur die Luft ab. Und ersticken will ich nicht. Außerdem gehen in so einem Aufzug nur Sesselpfurzer.“

      „Wir gehen nie essen“, meldet sich Gisela zu Wort, „und dabei würde ich so gerne in einer Gaststätte essen.“

      „Wir können uns solchen Luxus nicht leisten“, unterbricht sie der Vater.

      Vorbei ist es mit der Pilzesucherei. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Thomas denkt über die Ungerechtigkeit dieser Welt nach.

      Ohne Schwierigkeiten erhält Thomas von der Schule und der Schulbehörde die Genehmigung für den Besuch der Erweiterten Oberschule. Einige seiner Klassenkameraden, deren Väter Ärzte oder selbständige Handwerker sind, werden abgelehnt.

      „Wir können nur die Besten schicken“, sagt der Lehrer Herr Sanftmut.

      Wer sind nun die Besten? Bei dem Ausleseverfahren merkt Thomas, dass die Besten nicht unbedingt die Klügsten, Intelligentesten, Fleißigsten, Strebsamsten sein müssen. Persönlich sucht der Klassenleiter die Eltern von Veronika auf, wobei Veronika längst nicht so leistungsstark ist wie Michael oder Bernd. Dafür ist aber Veronika ein Mädchen, und ihr Vater ist obendrein noch von Beruf Dreher.

      Veronikas Vater gehört wie Vater Boronsky zur Arbeiterklasse. Michaels Vater dagegen und noch so manche andere Väter sind Angehörige der Intelligenz oder gar Unternehmer oder selbständige Handwerksmeister.

      „Wir müssen die Arbeiterklasse


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