Primel und die Schattenwesen. Vanessa Lange
und klopfte an die Tür, hinter der ein Mäusefleder auf sie wartete.
Was sagte man zu einem solchen? Wie sah er aus? War er gefährlich? Diesen Gedanken verbot sich Primel, denn ihre Mutter, so dachte sie, würde nie ihre Töchter mit etwas Gefährlichem alleine lassen.
Insgeheim stellte sie sich ein Vampirähnliches Geschöpf vor, mit langen Zähnen und bleicher Haut, doch was sie erblickte, als sich die Tür langsam öffnete, ging in eine ganz andere Richtung. Wie angewurzelt blieb Primel stehen. Lil drängte sich neugierig an ihr vorbei, direkt auf das Geschöpf zu, das mitten im Raum in einer Hängematte lag.
Der Mäusefleder hatte runzelige, graue Haut, große, runde, freundliche Augen, eine spitze Nase und einige Schnurrhaare. Eine dicke Brille vergrößerte seine Augen noch einmal.
Dennoch sah sein Gesicht ziemlich menschlich aus, auch wenn es etwas an eine Maus erinnerte. Die stummeligen Arme hatte er im Liegen vor der behaarten Brust verschränkt.
„Kommt näher!“, rief der Mäusefleder erfreut mit piepsiger Stimme. Er klang in etwa so, wie einige Jungen aus Primels Klasse, wenn sie vor einem Referat aufgeregt waren.
Sofort sprang Lil näher an die Hängematte heran und hielt dem Mäusefleder den Eimer mit den Staubmäusen hin.
„Für dich“, meinte sie. Er setzte sich keuchend auf und Primel zog scharf die Luft ein, als sie zwei gewaltige Flügel erblickte. Obwohl sie keine Angst mehr hatte, kam sie nur zögerlich näher.
„Wo hast du die Brille her?“, fragte Lil gerade. „Gibt es da wo du herkommst auch Brillen? Und was ist mit deinem Flügel? Wieso schmecken dir Staubmäuse? Ich habe mal eine gegessen, aber das war nicht so gut. Und was machst du den ganzen Tag hier unten?“
„Lil!“, mahnte Primel. War es nicht unhöflich, den Mäusefleder so zu löchern? „Ist schon in Ordnung!“, lachte dieser mit hoher Stimme. Er ließ sich ungelenk aus seiner Hängematte fallen und kam schwankend auf seinen knochigen Stummelbeinchen auf. Insgesamt ging er Primel bis zum Bauchnabel und trotzdem strahlte er Weisheit, Erfahrung und eine gewisse Freundlichkeit aus. Um seinen rechten Flügel war ein Verband gebunden.
„Ich habe lang genug geschlafen, da freut es mich, junge Mädchen zu treffen. Also, meine Herzchen, die Brille ist von eurer Mutter, bei uns draußen gibt es so etwas nicht und was meinen Flügel betrifft, dem geht es schon wieder ganz gut. Bald kann ich wieder fliegen“, sagte er und wackelte mit der rechten Flügelspitze.
„Kannst du wirklich fliegen? Wohnst du in den Bäumen?“, fragte Lil weiter. Ihre Augen leuchteten vor Aufregung und trotz des schummrigen Lichts konnte Primel erkennen, dass Lils Wangen rot glühten.
Sie schmunzelte und kam auch endlich näher. Eine Hand legte sie auf Lils Schulter und lauschte gebannt auf die Antworten des Mäusefleders. Dieser griff in den Eimer und nahm eine Hand voll Staubmäuse hinaus. Primel verzog das Gesicht, doch der Mäusefleder lachte nur.
„Sehr gut“, nuschelte er mit vollem Mund und warf einen sehnsüchtigen Blick auf den noch fast vollen Eimer. „Also, ja, normalerweise kann ich fliegen. Ich freue mich schon wieder, abzuheben. Ihr seht, zu Fuß bin ich etwas ungeschickt. Wir wohnen in Höhlen unter der Erde und schlafen etwa sechzehn Stunden am Tag. Dann, wenn ihr Menschen schlaft, kommen wir heraus und fliegen, auf der Suche nach Essen. Staubmäuse sind eine Delikatesse, die wir selten bekommen, aber ihr verwöhnt mich ja regelrecht. Es ist schwierig, in der Natur an Staub zu kommen. Höchstens in irgendwelchen Schuppen, Baumlöchern oder Garagen.“
Bei diesen Worten aß er noch eine Staubmaus und kaute bedächtig, bevor er weitersprach: „Eine gute Frau ist eure Mutter und ihr seid zwei gute Mädchen.“
Primel spürte Stolz in sich aufsteigen und hatte plötzlich das Bedürfnis sich vorzustellen. Sie räusperte sich, nahm die Hand von Lils Schulter und streckte sie dem Mäusefleder hin.
„Ich bin Primel“, meinte sie. Lachend ergriff der Mäusefleder ihre Hand. Seine runzeligen, kleinen Finger fühlten sich warm auf ihrer Haut an.
„Ich weiß“, meinte er und ein Blick in seine weisen Augen sagte Primel, dass er es tatsächlich wusste.
„Deine Mutter hat mir alles über euch erzählt. Man nennt mich Borke.“
Primel lächelte. Zum Glück nahm Lil es ihr ab, etwas sagen zu müssen.
„Hallo Borke“, sagte diese und hüpfte aufgeregt um ihn herum. „Weißt du, was ich gestern gesehen habe?“ Primel ahnte, was jetzt kam.
„In meinem Zimmer war eine Fee!“
Primel hätte erwartet, dass auch der Mäusefleder schmunzelte, aber er sah Lil mit ernst dreinblickenden, wachsamen Augen an.
„Soso, dann wird sie wiederkommen“, meinte er.
„Wieso?“, fragte Lil.
„Ich habe schon viel mit Tränenfeen zu tun gehabt, doch meistens suchen sie nur die Gesellschaft anderer Wesen, wenn sie Hilfe brauchen. Hat sie denn geweint?“, wollte er wissen. Primel lief ein Schauer über den Rücken, als sie an den goldenen Schimmer auf dem Fensterbrett dachte. Vielleicht hatte Lil es sich ja doch nicht ausgedacht.
„Ja“, antwortete ihre Schwester.
„Gut, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Lacrima zurückkommt. Eine weinende Lacrima ist verzweifelt und lässt nicht locker, bis sie Hilfe bekommt.“
Lil hüpfte zweimal in die Luft und quiekte erfreut. „Ich geh gleich schauen, ob sie wieder in meinem Zimmer sitzt“, rief sie und rannte auf die Tür zu, bevor Primel sie aufhalten konnte.
Sie nickte entschuldigend dem Mäusefleder zu, dann verabschiedete sie sich und folgte ihrer Schwester langsam die Treppe hinauf ins Wohnzimmer.
Hüster, Blättermännchen und co
Lil war schon ein Stockwerk weiter oben in ihrem Zimmer verschwunden.
Primel machte sich nicht die Mühe, sie zurückzurufen. Stattdessen schnappte sie sich eine Packung Vogelkörner und marschierte in den Garten hinaus.
In jeden einzelnen Blumentopf streute sie einige Körner hinein. Sie wollte ganz sicher gehen, dass kein Blättermännchen leer ausging. Egal, wie sehr sie auch versuchte, richtige Blätter von den Blättermännchen zu unterscheiden, es ging nicht. Die zierlichen Geschöpfe waren zu gut getarnt.
In Gedanken noch immer bei dem Mäusefleder und dem Gespräch über die Lacrima, passte Primel nicht auf, wo sie hintrat, stolperte und schlug der Länge nach auf die Wiese.
Ein raues Lachen ertönte neben ihrem Ohr. Primel drehte den Kopf. Gras kitzelte an ihrer Wange. Erschreckt zuckte sie zusammen. Direkt vor ihrem Gesicht stand ein Hüster, so klein, dass er ihr gerade einmal bis zur Nase reichte und lachte sie frech an. Seine dicke knollige Nase schien zu groß zu sein für sein Gesicht und obwohl Primel schon oft einen Hüster gesehen hatte und schon oft von einem solchen zu Fall gebracht worden war, wurde sie wie jedes Mal wütend.
Sie hätte sich verletzen können, aber diesen wuselnden Wesen fiel nichts Besseres ein, als mit Absicht Leute zu Fall zu bringen.
Primel setzte sich auf und blickte mit gerunzelter Stirn auf den Hüster hinab.
Gerade wollte sie strenge Worte an ihn richten, als er zu husten begann.
Lil hatte Recht. Es klang wie Musik.
Glockenhell bildete das Husten einen Kontrast zu seinem rauen Lachen, der Primel vergessen ließ, was sie eigentlich sagen wollte.
Aus einer anderen Ecke des Gartens fiel ein anderer Hüster mit ein. Verwirrt stand Primel auf und lief wieder auf das Haus zu. Sie schloss die verglaste Terrassentür hinter sich und erst da verstummte das betörende Husten. Sie schüttelte den Kopf und als sie in das spöttische Grinsen des Hüsters sah, der noch immer draußen im Gras saß, kam die Wut zurück.
Diese fiesen Wesen hatten sie wieder einmal ausgetrickst und sie war