Primel und die Schattenwesen. Vanessa Lange
werden nicht losziehen und einfach mal schnell eine kleine Knöllin aus einem Land voller Gefahren befreien.“
„Aber du hast es versprochen“, drängte sie.
„Nein“, meinte Primel. „Ich habe versprochen, Roxane ein Abenteuer zu besorgen und das hat sie nun. Ich habe nie gesagt, dass wir sie auf dieses Abenteuer begleiten. Was sie jetzt macht, kann uns egal sein. Wir bringen uns nicht in Gefahr.“
„Aber Priml. Wir müssen der Knöllin helfen“, versuchte sie es weiter. Primel ärgerte sich. Jetzt stieg das Mitleid mit der traurigen Knollmutter, dem verspielten Knolljungen und der verzweifelten, ängstlichen, entführten kleinen Knöllin in ihr auf.
Was, wenn Lil von ihr getrennt wäre und sie nicht wüsste, wo sie war? Das wäre schrecklich. Aber die Gefahr?
War es möglich, das Knolljunge zu befreien, ohne sich in Gefahr zu begeben? Wohl kaum.
„Priml, wir müssen den Knollen helfen! Wir können nicht einfach dasitzen und wissen, dass die kleine Knöllin in Gefahr ist!“, zeterte Lil weiter.
Primel schüttelte entschieden den Kopf. „Wir können warten, bis Mama und Papa heute Abend zurückkommen und dann sollen die entscheiden!“, beschloss sie.
„Heute Abend ist zu spät“, ertönte Roxanes Stimme von hinten.
Sie war ihnen unbemerkt gefolgt. Primel fluchte innerlich. Jetzt hatte sie gerade ihre kleine Schwester davon überzeugt, hier zu bleiben und nun kam Roxane und stimmte sie wieder um. Diese blöde Fee…
„Wenn wir heute Abend erst etwas unternehmen, komme ich nicht rechtzeitig zu meinem Stamm zurück. Außerdem, wer weiß, was der kleinen Knöllin bis heute Abend alles passieren kann“, fuhr sie mit honigweicher Stimme fort. Sofort hatte die Fee Lil wieder auf ihrer Seite.
Primel schüttelte den Kopf. Sie durfte sich nicht ablenken lassen. Sie kniff die Augen fest zusammen.
„Nein!“, rief sie, lauter als beabsichtigt. „Nein!“
Die Kellertür ging auf und der Mäusefleder streckte seinen Kopf hinaus.
„Was ist so wichtig, dass man einen alten Mäusefleder aus dem Schlaf reißt?“, fragte er und schmunzelte.
„Borke!“, rief Lil erfreut, „Wir ziehen los und erleben ein Abenteuer!“
Primel atmete erleichtert aus und öffnete die Augen wieder. Er würde Lil bestimmt nicht erlauben, mit Roxane zu gehen.
Sie drängte ihre Schwester durch die Tür und schloss sie hinter sich. Leider wischte auch Roxane durch den Spalt hinein.
Dann begann Primel zu erzählen, was passiert war. Borke hörte geduldig zu, er nahm Primels Befürchtungen mit gerunzelter Stirn zur Kenntnis und Primel fühlte sich verstanden und geborgen. In seiner Gegenwart wirkten die Schattenwesen auch gar nicht mehr so bedrohlich.
Primel endete und blickte ihn gespannt an. Was würde er dazu sagen?
Doch Roxane kam ihm zuvor. „Ich muss rechtzeitig zu meinem Stamm zurück!“, zischte sie und man merkte ihre Wut und Verzweiflung. „Aber ich brauche Hilfe. Alleine kann ich die Knöllin nicht befreien und dieses Abenteuer erleben.“
„Dir geht es doch gar nicht um die Knöllin, sondern nur um dein blödes Abenteuer!“, giftete Primel zurück.
Das alles war ihr zu viel und die Situation überforderte sie.
„Und wenn schon!“, erwiderte Roxane, drehte sich in der Luft um und verschränkte ihre Ärmchen.
„Ich mag der kleinen Knöllin helfen!“, schniefte Lil und eine Träne kullerte ihre Wange hinab.
Der Mäusefleder schnaufte. „Weißt du, kleine Lil, das ist eine sehr gefährliche Reise. Ihr müsstet den Wald der Fantasien durchqueren. Dort leben zahlreiche magische Wesen, gute, wie böse. Es gibt gefährliche Pflanzen, die sich von Fleisch ernähren, oder aber einfach nur nach dir schnappen und dich gefangen halten. Hier ist auch die Zeit anders. Während im Wald der Fantasien zwei Tage vergehen, vergeht hier gerade einmal einer.
Wenn ihr es geschafft habt, diesen Wald zu durchqueren, kommt ihr ins Feuerland. Eine Region, bestehend aus Lava, Magma, Asche, Vulkanen und Hitze. Und nicht zu vergessen die Feuerwesen und die Schattenwesen, die dort leben. Und hier beginnt erst das Schwierige. Ich meine, wie wollt ihr ein Knolljunges aus den Fängen der Schattenwesen befreien?“
Primel war dem Mäusefleder sehr dankbar. Er hatte all ihre Bedenken auf den Punkt gebracht.
„Wir warten, bis unsere Eltern zurückkommen“, schlug sie nun noch einmal vor.
„Böse Blumen“, murmelte Lil.
„Lil, hör auf, es dir vorzustellen! Hör sofort damit auf!“, kreischte Borke plötzlich. Er stolperte auf seinen kleinen Beinchen auf Lil zu. Diese sah abwesend in die Ferne. Der Mäusefleder griff nach ihrem Arm, doch er griff einfach hindurch.
„Nein, Lil, hör auf, es dir vorzustellen!“, schrie er, doch Lil reagierte nicht.
Primel erstarrte.
Sie blickte ungläubig ihre Schwester an. Was geschah mit ihr?
„Lil!“, rief sie und stürzte nun auch auf sie zu. Panisch wollte sie sich auf sie schmeißen, doch sie glitt durch sie hindurch und knallte hart auf den Boden.
„Lil! Was soll das? Borke? Was ist mit ihr los?“, kreischte Primel hysterisch und sie versuchte erneut, ihre kleine Schwester zu packen. Ohne Erfolg.
„Lass das, Primel. Es ist zu spät. Wir können sie nicht mehr aufhalten. Sie ist bereits auf dem Weg in den Wald der Fantasien“, meinte Borke und Primel fand, er klang dabei sehr niedergeschlagen.
Die Reise beginnt
Hitze und Kälte fluteten durch ihren Körper. Und jetzt? „Hol sie zurück! Borke, hol sie zurück!“, schrie sie und setzte sich verzweifelt auf den kühlen Boden. Noch immer stand Lil im Zimmer, ohne dass man sie berühren konnte, doch ihre Konturen verschwammen und sie selbst wurde durchscheinend. Mit Tränen in den Augen sah Primel zu, wie Lil immer mehr verschwand. Dann war sie weg. Keine Spur von ihr war zu sehen.
„Um in den Wald der Fantasien zu gelangen, muss man ihn sich vorzustellen. Und man muss von der Existenz magischer Wesen wissen. Je jünger das Kind, desto schneller geht es und desto weniger Angaben braucht man. Aber dass es bei Lil so schnell ging, hätte ich nicht gedacht“, murmelte Borke vor sich hin. „Sie muss ein besonderes Gefühl für Magie haben.“
„Wir müssen ihr helfen! Was, wenn gerade jetzt eine böse Pflanze nach ihr schnappt!“, rief Primel panisch aus. „Und was, wenn Schlingpflanzen sie gefangen halten, oder sonst irgendwelche Wesen ihr etwas …!“
„Primel, beruhige dich!“, unterbrach sie Borke. „Wir werden ihr helfen. Und der Wald der Fantasien ist vor allem schön. Er ist nicht wie das Feuerland. Es gibt Gefahren, aber nicht an jeder Ecke.“
„Wie komme ich in diesen Wald?!”
Sie würde ihre Schwester zurückholen. Sie hatte ihrer Mutter versprochen, auf Lil aufzupassen!
Auch Roxane schwebte näher heran. „Genau, wie kommt man jetzt hinein?“, wollte auch sie wissen.
„Dir geht’s doch gar nicht um Lil oder das Knolljunge!“, schrie Primel die Fee noch einmal an, „Du willst doch nur dein blödes Abenteuer erleben!“
„Und wenn schon!“, entgegnete Roxane.
„Die Sache ist die“, meinte Borke zögerlich und hatte sofort wieder die volle Aufmerksamkeit. „Ich weiß nicht, wie man wieder herauskommt.“
„Was?“, entfuhr es Primel entgeistert. „Das heißt, meine Schwester ist was weiß ich wo und keiner weiß, wie wir sie zurückholen können?“
Der Mäusefleder nickte ernst. Primel