Primel und die Schattenwesen. Vanessa Lange
und machte es ihr unmöglich, sich auf die Pflanzen zu konzentrieren. Außerdem musste sie immer an eines dieser dünnen Gewächse denken, die sich die Fliegen in der Küche schnappten. Das konnte unmöglich dem Wald der Fantasien ähneln.
„Hilf mir, beschreib mir genauer, wie es dort aussieht“, befahl Primel hektisch und Roxane kam noch ein Stückchen näher.
„Ich war selbst noch nie dort“, verteidigte sich Borke und wich zurück. „Nur Kinder können den Wald betreten. Sobald sie aus dem Kindesalter heraus sind, reicht die Vorstellungskraft nicht mehr. Und Schattenwesen. Sie können die Grenzen mühelos überqueren.“
Roxane lächelte überlegen: „Ich bin noch genau bis morgen ein Feenkind. Also los!“
Primel wurde schlecht. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht in Panik zu verfallen. Sie sah aus dem Augenwinkel, wie Roxane durchscheinend wurde. Sie hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich auf irgendetwas. Dann war sie fast vollständig durchsichtig. Primel erkannte die Hängematte durch sie hindurch. Und plötzlich war Roxane verschwunden. Lil war in einem gefährlichen Wald mit einer egoistischen Fee und fleischfressenden Pflanzen. Na super. Warum konnte sie nicht auch dorthin? Warum konnte sie es sich nicht vorstellen?
Borke saß verzweifelt und zusammengekauert vor ihr auf dem Boden. Primel schluckte ihre Wut hinunter und schloss erneut die Augen. In ihrem Geiste wuchs eine riesige Pflanze empor. Sie hatte Zähne und spitze Krallen, aber wunderschöne, duftende, knallrote Blätter. Daneben rankten sich Schlingpflanzen um einen Baum. Alles war grün und es roch gut nach den Blättern.
„Primel!“, drang von irgendwoher eine Stimme zu ihr durch. „Primel! Geh du nicht auch noch. Was soll ich eurer Mutter bloß erzählen?“, flehte der Mäusefleder.
Kurz verschwand der Duft und Primel spürte, wie die Vorstellung ihr entglitt, doch sie klammerte sich mit aller Kraft an die Schmetterlinge, die gerade vor ihrem inneren Auge aufgetaucht waren. Sie musste Lil retten. Sie musste einfach Lil retten.
Ganz fest kniff sie die Augen zusammen und ignorierte Borkes Flehen, das sich immer weiter von ihr entfernte, bis sie nichts mehr hörte. Sie versank im Grün ihrer Vorstellung, ließ sich von bunten Vögeln tragen und wich frechen Lianen aus. Für nichts anderes hatte sie mehr Gedanken übrig.
Im Wald der Fantasien
Ein Finger piekte sie in den Arm. Nein, sie wollte gerne noch länger in der Vorstellung verharren. Wieder dieses nervige Pieken. „Primel, ich an deiner Stelle würde jetzt sofort die Augen aufmachen und Lil helfen!“, vernahm sie Roxanes Stimme.
Beim Namen ihrer Schwester schlug sie tatsächlich die Augen auf und tauchte aus ihrer Vorstellung auf. Sie war verwirrt. Um sie herum war alles grün und trotzdem farbenfroh.
Bunte Blüten, teilweise so groß, wie sie selbst ragten empor und von allen Seiten strömte ihr ein Duft entgegen, der den aus ihrer Fantasie um ein Vielfaches übertraf.
Mit offenem Mund ließ sie ihren Blick wandern. Grüne Pflanzen, hohe Bäume, bunte Blumen und da, ganz weit oben…
„Lil!“, entfuhr es ihr überrascht. Ihre kleine Schwester saß hoch oben, weit über ihrem Kopf in einem seltsam verschlungenen Baum. Ihre Beinchen baumelten in der Luft und sie quiekte fröhlich.
„Schau, Priml! Lil ist hoch oben!“, rief sie erfreut.
„Lil, komm da sofort runter!”, schrie sie und fuchtelte mit den Armen. Sie wusste genau, dass das nicht so einfach war. Schweiß rann ihre Schläfen hinunter. Die Temperaturen hier waren tropisch.
„Wie ist sie da hochgekommen?”, wollte sie von Roxane wissen. Die zuckte nur mit den Schultern: „Als ich ankam, war sie schon oben.”
„Priml! Lil ist hochgeflogen!”, rief die kleine Schwester und wackelte mit den Armen, um Flügel zu simulieren.
„Warum redet sie in der dritten Person von sich?”, meinte Roxane. Primel fluchte. War das etwa die einzige Sorge von dieser blöden Fee?
Die Sorge stand ihr ins Gesicht geschrieben. Was war los mit ihrer Schwester?
„Komm bitte wieder runter!”, schrie Primel und sank zusammen. Es war ihr zu heiß, sie wollte nicht diese Verantwortung haben, Roxane war ihr zu arrogant und Abenteuer mochte sie sowieso nicht, also warum war sie hier?
„Priml! Lil kommt jetzt wieder runter!”, vernahm sie Lils Stimme. Erschrocken drehte sie den Kopf. Ihre Haare klebten im Nacken und das T-Shirt fühlte sich wie eine zweite Haut an. Sie hatte das Gefühl, zu ersticken. Das war einfach zu viel.
Plötzlich kam Wind auf. Die Blätter rauschten. Irgendwo ertönte ein Schrei und Schwärze raste genau auf Lil zu. Primel schrie. Roxane floh hinter eine Wurzel und Lil klammerte sich ängstlich an den Baum. Dunkle Schlieren verdeckten den Himmel. Ein Schattenwesen.
„Lil”, schluchzte Primel. Blätter segelten hinunter. Ein Geschöpf brach mitten durch das Blätterdach. Schützend hob Primel die Arme über den Kopf. Wo war Lil? Sie atmete tief durch, wappnete sich für den Anblick, der sich ihr bieten würde, hob den Kopf und riss die Augen erstaunt auf.
Sie taumelte einige Schritte rückwärts und stieß gegen einen Strauch, der wütend zischte. Dornen stachen durch ihr Shirt, aber es war egal. Primel hatte nur Augen für Lil, die auf dem Rücken eines nilpferdgroßen Vogels über ihrem Kopf Runden drehte und durch die Äste und Blätter brach. Langsam segelte er auf den Boden zu, setzte mit einem dumpfen Schlag auf und Lil purzelte Primel vor die Füße.
„Ich bin wieder da”, meinte sie und grinste zu ihrer Schwester hinauf.
„Offenbar kann sie wieder richtig sprechen”, stellte Roxane trocken fest. Sie kauerte noch immer hinter der Wurzel.
Primel ignorierte die unmögliche Fee und stürzte sich auf Lil. Diesmal glitt sie nicht durch sie hindurch. Primel drückte sie ganz fest.
„Erschreck mich nicht noch einmal so, ok? Und hau nicht noch einmal einfach so in einen unbekannten Wald ab”, bat sie und verstärkte ihren Druck, bis Lil quiekte.
Diese befreite sich aus der Umklammerung ihrer Schwester und sah sich um.
„Wo ist er?”, wollte Lil wissen.
„Wer?”
„Na der bunte Vogel.”
Jetzt blickte auch Primel sich um. Sie konnte Roxane nirgendwo entdecken. Auch der Vogel war verschwunden. Wobei Vogel für dieses riesige Geschöpf auch etwas untertrieben war. Zum Glück war auch das Schattenwesen nicht mehr da.
„Komm her, Vogel!”, rief Lil und drehte sich im Kreis. Primel hatte den Eindruck, ihre kleine Schwester war sich der Gefahr, in der sie sich befunden hatte, gar nicht bewusst. Sie sah das Ganze als ein Spiel an.
Die Blätter raschelten erneut. Zur Sicherheit schnappte Primel nach Lils Hand. Alle ihre Muskeln waren angespannt. Sie war bereit, ihre Schwester zu verteidigen.
Doch aus dem Dickicht trat nur ein Junge. Mit grüner Haut. Langsam kam er auf sie zu und streckte ihnen beschwichtigend die Hände entgegen.
Primel wich automatisch zurück und zog Lil mit sich.
„Bitte bleibt stehen!”, rief der seltsame Junge. „Ich bin Wasusch und will euch ein Freund sein.”
Primel fand, er klang aufrichtig, aber seine grüne Hautfarbe und die spitzen Ohren ließen ihn nicht sehr vertrauenserweckend aussehen. Außerdem war er so gekleidet, wie sie sich Tarzan oder Mogli aus dem Dschungelbuch vorstellte. Nur mit einem Lendenschurz aus dreckigem Stoff und Blättern. Unter seiner grünen Haut konnte sie deutlich Muskeln erkennen.
Trotzdem blieb Primel stehen und ließ ihn herankommen. Alleine würde sie sich sowieso nicht wehren können. Sie würde jede Wette eingehen, dass sie dieser Junge im Falle einer Verfolgungsjagd schneller eingeholt hätte, als dass sie bis drei würde zählen können.
„Pass auf, gleich schnappt eine Schlingpflanze