Die Pferdelords 06 - Die Paladine der toten Stadt. Michael Schenk
Gendaneris kam, die von den Korsaren
der See besetzt war. Einige von ihnen waren von dem roten Licht umgeben.
Ich konnte es nicht deuten, aber ich spürte instinktiv, dass etwas nicht in
Ordnung war.«
»Wir Grauen können diese Gabe gezielt einsetzen. Ich fürchte, das ist bei
Euch nicht der Fall, Nedeam, aber dennoch kann sie Euch gute Dienste
leisten. Wenn auch nicht dabei, Wesen meiner Art zu erkennen, denn wir
können die Ausstrahlung unserer Aura unterbinden. Deshalb fällt es mir auch
schwer, meine eigenen Artgenossen aufzuspüren.« Marnalf fühlte die
Besorgnis des Pferdelords. »Ihr seid und bleibt ein Mensch, Nedeam,
Pferdelord. Ihr verfügt nun lediglich über ein paar besondere Fähigkeiten. Sie
verändern Euer Wesen nicht, aber dennoch solltet Ihr sie geheimhalten. Die
anderen Menschen werden kaum verstehen, was da mit Euch geschehen ist.
Sie könnten Euch mit Furcht, ja sogar mit Hass begegnen.«
»Ich verstehe es ja selber nicht.«
»Jedenfalls solltet Ihr niemandem von diesen Fähigkeiten erzählen.«
Marnalf blähte die Backen und stieß dann die Luft explosionsartig aus. »Eine
… unbedeutende Kleinigkeit wäre da noch zu erwähnen. Die Fähigkeit der
Heilung ist mit einem längeren Leben verbunden.«
Nedeams Lippen zitterten. »Ein Leben wie das der Elfen?«
»Nein, nur ein paar zusätzliche Jahreswenden. Vermutlich werdet Ihr
etwas langsamer altern. Aber Ihr werdet ebenso dahinscheiden wie alle
sterblichen Wesen.« Marnalf nahm Nedeam den Schinken und das Messer aus
den zitternden Händen. Dann legte er den Schinken ins Regal zurück, wischte
das Messer sauber und schob es wieder in Nedeams Gürtel. »Denkt immer
daran, Pferdemensch Nedeam, Ihr seid ein sterbliches Wesen und verfügt
über keinerlei Zauberkraft. Nur ein paar Gaben, die ungewöhnlich sind für
einen Menschen. Aber Ihr könnt sie nicht beherrschen; sie beherrschen Euch.
Aber sie haben Euer Wesen nicht verändert, mein Freund. Dessen musste ich
mich vergewissern.« Er schlug Nedeam aufmunternd auf die Schulter. »Und
nun sollten wir wieder zu den anderen gehen, sonst machen sie sich noch
Sorgen.« Er lächelte sanft. »Doch zuvor lasst uns noch ein Stück diese
Schinkens mitnehmen. Er ist wirklich zu köstlich.«
Die Ruhe oder Unruhe der anderen berührte Nedeam in diesem
Augenblick nicht sonderlich. Was der gute Graue Marnalf ihm da eröffnet
hatte, war unfassbar, und er wusste nur, dass es sein Leben entscheidend
beeinflussen konnte.
Kapitel 7
Der Wind kam von Norden, und es schien, als wolle sich der Posten von
Niyashaar in den Schutz der steilen Felsklippe ducken, die hoch über ihm
aufragte. Es war eine klare Nacht, und in der eiskalten Luft funkelten die
Sterne besonders hell. Nur fern im Nordwesten zog eine einsame Wolkenbank
über den Himmel, sanft angestrahlt vom Licht des Mondes.
Es war ungewöhnlich kalt, und die elfischen Wachen auf der Wehrmauer
von Niyashaar hüllten sich eng in ihre Umhänge. Doch selbst die besondere
Machart des elfischen Tuches konnte sie nicht vor dem beißenden Wind
schützen, der durch jede Öffnung zog und leise pfeifend um den hohen Turm
strich, auf dessen Spitze das ovale Banner des Hauses Tenadan wie ein Brett
im steten Luftstrom stand.
Elgeros, Bogenführer des Hauses Tenadan und Kommandierender der
Hundertschaft, fand keinen Schlaf. Er hatte im obersten Stockwerk des
Verteidigungsturms auf dem Bett gelegen, die Hände im Nacken verschränkt,
und war vollständig angekleidet. Obwohl er die Decke über seinen Körper
gezogen hatte, war ihm kalt. Im Kamin des Turmzimmers brannte kein
wärmendes Feuer, und auch in den Unterkünften waren die Feuerstellen kalt
geblieben. Einige der Männer hatten gemurrt, aber Elgeros hatte darauf
bestanden, in der Nacht keine Feuer und Lampen zu entzünden. Irgendetwas
war da draußen, und es war den Elfen feindlich gesinnt. Ein Licht würde weit
in die Nacht hinausstrahlen, und der Bogenführer wollte den unbekannten
Feind nicht unnötig auf die neue Besatzung von Niyashaar aufmerksam
machen. Die verschwundene Hundertschaft, welche die Anlage zuvor besetzt
gehalten hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Die Disziplin der elfischen
Krieger war zu groß, als dass die Truppe Niyashaar einfach aufgegeben hätte.
Sie würde auch nicht versäumt haben, einen Boten zu den Häusern zu
schicken. Nein, die Elfen hier waren von irgendetwas überrascht und
überwältigt worden. Elgeros glaubte nicht, dass es Orks gewesen waren.
Diese Bestien hätten ihre Spuren hinterlassen. Aber wer war dann für das
Verschwinden der Elfen verantwortlich? In der nördlichen Öde existierte
nichts mehr, was einer Hundertschaft ihrer Bogen gefährlich werden könnte.
Und das Volk des Eises, das hoch im Norden lebte, ging nicht so weit nach
Süden, denn es fürchtete die Öde. Oder hatten es die Eismenschen doch
gewagt?
Elgeros fand einfach keine Ruhe. Über sich hörte er gelegentlich das leise
Scharren von Füßen, wenn die beiden Elfen auf der Turmplattform ihren
Standort wechselten. Sie bewegten sich öfter, als es üblich war. Vielleicht
wegen der Kälte oder weil auch sie beunruhigt waren …
Er seufzte leise und richtete sich auf. Sein Blick schweifte durch den
Raum. Die mit Klarstein verschlossenen Fensteröffnungen ließen genug
Sternenlicht herein, um sich mühelos orientieren zu können. Er brauchte
keine Lampe zu entzünden, als er sich erhob und zu dem Schreibtisch
hinüberging, der gegenüber an der Wand stand. Von unten hörte er leises
Schnarchen. Er hatte die Hundertschaft aufgeteilt und je zu einem Drittel in
den beiden Unterkünften und im Turm untergebracht. Sollte es einem Feind
gelingen, über die Mauer