Die Pferdelords 06 - Die Paladine der toten Stadt. Michael Schenk
ihn und nahm Becher und eine
Karaffe heraus. Während Elodarion auf einem anderen Stuhl Platz nahm,
schenkte Tasmund ihnen allen ein. Garodem sah angespannt zu, wie Jalan an
die große Karte trat, die an der linken Wand hing.
Durch die großen Klarsteinscheiben der Fenster fiel helles Licht herein und
hob jede Einzelheit der Karte hervor. Diese zeigte die Marken des
Pferdevolkes und die angrenzenden Länder und war weitaus genauer und mit
deutlich mehr Details versehen als die üblichen Karten der Menschen.
Jalan-olud-Deshay trat nahe an die Karte heran, betrachtete sie eine Weile
schweigend und nahm geistesabwesend den Becher entgegen, den Tasmund
ihm hinstreckte. Als der Freund und Berater Garodems zurücktrat und sich
neben den Pferdefürsten stellte, räusperte sich der Elf, wandte sich um und
sah die Menschen ernst an.
»Dies ist unsere Welt, meine menschlichen Freunde, und sie ist im
Wandel, so wie alles im Wandel ist. Die Häuser der Elfen haben das
Menschengeschlecht für lange Zeit begleitet. Vieles, was unsere Augen
sahen, hat uns nicht gefallen. Euer kurzlebiges Wesen ist von Habgier und
Machtstreben bestimmt; Ihr achtet zu wenig auf das, was die Natur Euch im
Übermaß schenkt, und schätzt es nicht; Ihr vermehrt Euch und verbreitet
Euch über das Land. Vom Standpunkt eines elfischen Wesens aus besehen,
gibt es nur weniges, was für Euch spricht.«
Garodems Augen verengten sich, und Tasmunds Blick nahm einen
drohenden Ausdruck an. Doch Jalan hob beschwichtigend eine Hand und
lächelte sanft. »Ich will Euch nicht beleidigen, meine Freunde. Es gibt
natürlich auch Dinge, die ich an Euch schätze, denn sonst würde ich Euch
nicht meine Freunde nennen. Wir Elfen sind mit solchen Bekundungen sehr
sparsam, das wisst Ihr.«
»Das ist wahr«, stimmte Garodem zu, und die beiden Pferdelords
entspannten sich wieder. »Aber Ihr scheint nicht gerade eine hohe Meinung
von uns Menschen zu haben, Freund Jalan.«
»Ich bedaure das. Wir Elfen sprechen die Dinge aus, wie sie sind.« Jalan
lachte freundlich. »Oder wenigstens, wie sie uns erscheinen. Falschheit und
Lüge liegen uns fern. Ich war lange Zeit ein Gegner des Bundes zwischen
Menschen und Elfen. Manches Eurer Reiche habe ich zerfallen sehen – nicht
etwa bezwungen von einem äußeren Feind, sondern zersetzt durch Hass und
Missgunst untereinander. Als der Schwarze Lord sich erhob, traten die
elfischen Häuser an die Seite der Menschen, um den gemeinsamen Feind zu
bezwingen. Heute weiß ich, dass diese Entscheidung richtig war. Es gibt
Menschen, an deren Seite man dem Tod unbekümmert entgegentritt. Ihr,
Garodem, und Ihr, Tasmund, gehört dazu.«
»Und Nedeam?« Garodems Stimme war leise.
Jalan-olud-Deshay zögerte mit der Antwort. »Das wird sich rasch
erweisen, Garodem, Fürst der Hochmark. Nein, stellt nun keine Frage. Nur
Marnalf kann darüber entscheiden.«
»Was, bei den Finsteren Abgründen, geht hier vor?«, fragte Tasmund
grimmig. »Nedeam ist der Erste Schwertmann der Mark. Ein wahrer und
aufrechter Pferdelord. Das hat er oft genug bewiesen.« Tasmunds Stimme
wurde kalt. »Unter anderem auch im Kampf um Euer Haus, Herr Elf.«
»Ich kann den Zorn in Euch spüren, Pferdemensch Tasmund.« Jalan löste
sich von der Karte und trat auf Tasmund zu, wobei er die offenen
Handflächen zeigte als Zeichen des Friedens. »Doch zürnt mir nicht, Hoher
Herr Tasmund. Ich trage keine Schuld an dem Schicksal, das Eurem Volk
bestimmt ist.«
»Seht es mir nach, Ihr Hohen Herren«, stieß nun Garodem hervor. »Ich bin
ein einfacher Krieger und an offene Worte gewöhnt. Sprecht gerade heraus,
was vor sich geht. Gilt Euer Besuch meinem Ersten Schwertmann oder der
Mark?«
»Ich will es Euch erklären, so gut ich kann.« Jalan nahm die Karaffe vom
Schreibtisch und schenkte sich nach. Nachdem er an seinem Becher genippt
hatte, trat er erneut zur Karte. »Wie Ihr wisst, werden die Häuser der Elfen
das Land verlassen. Schon lange beabsichtigen wir, zu den Neuen Ufern
aufzubrechen. Nun, da unser Volk über das notwendige Wissen verfügt, ist es
so weit.« Er sah in die Augen der Menschen und nickte. »Ja, es ist so weit.
Die Häuser der Elfen gehen fort. Zwei sind schon auf der Reise über das
Meer, und die anderen werden rasch folgen.«
»Wie rasch?«, fragte Garodem.
»Zur Wende des kommenden Jahres werden die letzten von uns Elfen
aufgebrochen sein.«
»So rasch?« Tasmunds Stimme klang bestürzt.
»Ich kann Eure Sorge verstehen, Tasmund.« Elodarion seufzte schwer.
»Ich weiß, dass dann die Last, die wir bislang teilten, allein auf Euren
Schultern liegt. Es ist nun an den Menschenreichen, dem Schwarzen Lord zu
widerstehen.«
»Bei den Finsteren Abgründen«, murmelte Garodem mit tonloser Stimme.
»Ich dachte, es bliebe uns noch mehr Zeit.«
»Der Moment ist gekommen.« Jalan blickte auf den Boden. »Das Zeitalter
der Elfen ist vorbei und das der Menschen ist angebrochen.«
»Oder das der Orks«, stieß Tasmund heiser hervor. »Verdammt, der
Schwarze Lord ist noch lange nicht geschlagen. Seine Legionen stehen an den
Grenzen und werden immer stärker.«
»Wir haben gehofft, Ihr Elfen würdet uns zur Seite stehen«, warf Garodem
leise ein. »Es wird schwer sein ohne Euch.«
»Es geht nicht anders. Wir müssen gehen, Garodem, Pferdefürst.« Jalan
wandte sich der Karte zu und legte seinen Finger auf eine der eingezeichneten
Regionen. »Wenn wir Elfen das Land verlassen, wird sich manches ändern.
Die Kraft der Menschen wird entscheiden, ob zum Guten oder zum