Die Pferdelords 06 - Die Paladine der toten Stadt. Michael Schenk
im raschen Schritt seines Volkes passiert,
ohne eine längere Rast einzulegen. Das Verschwinden der elfischen
Besatzung in Niyashaar bereitete ihm Sorge. Eine ganze Hundertschaft
verschollen und vermutlich tot, kostbare Leben, die nun vergangen waren.
Nendas kannte die Bedeutung Niyashaars für die große Reise der Häuser.
Hier verlief die letzte Grenze, die von den Elfen gehalten wurde und von den
Mächten der Finsternis bedroht war. Wurde der Vorposten bedrängt, dann
blieb den Häusern nur noch wenig Zeit, das Land zu verlassen. Niyashaar
sollte rechtzeitig vor dieser Bedrohung warnen und ihnen die erforderliche
Zeit verschaffen. Nun war seine Besatzung verschwunden und der Posten
gefallen, und doch war er nicht eigentlich genommen worden, denn keine
Legionen der Orks marschierten über den Pass von Rushaan. Für Nendas war
das ein Rätsel. Welcher Sinn lag darin, einen befestigten Posten zu nehmen
und den so erlangten Vorteil nicht zu nutzen? Nein, in Niyashaar war etwas
geschehen, dessen Bedeutung noch nicht abzusehen war. Die Kunde musste
die Ältesten erreichen, und sie mussten entscheiden, was zu tun war. Dies war
Nendas’ Aufgabe, und er erfüllte sie mit der Sorgfalt eines elfischen Kriegers.
Rastlos war sein Blick umhergehuscht, um jede Gefahr rechtzeitig zu
erspähen, und ebenso rastlos waren seine Schritte gewesen, die ihn an der
Öde vorbeitrugen. Er hatte den Pass von Eten im Gebirge von Noren-Brak
erreicht, war dem Flussverlauf gefolgt und dabei immer auf der Hut gewesen.
Bald würde er den verborgenen Pfad erreichen, der rechter Hand durch das
Gebirge führte und an den Häusern des Waldes endete. Dort, im Schutz der
elfischen Bogen, würde er in Sicherheit sein. Doch bis dahin war es noch
weit.
Nendas’ Schritt war nicht mehr so leicht und federnd wie noch bei seinem
Aufbruch in Niyashaar. Der Lauf zehrte zunehmend an seinen Kräften,
außerdem führte der Weg nun durchs Gebirge, über enge, steile Pfade mit
losen Steinen, auf denen man ausgleiten konnte. Auch gab es hier
gefährliches Wild und es gab Zwerge, und beidem wollte Nendas möglichst
aus dem Wege gehen. Denn auch wenn es begrenzten Handel mit der
Zwergenstadt von Nal’t’rund gab, so traute Nendas den kleinen Herren nicht
sehr. Eigentlich traute er keinem sterblichen Wesen; zu schnell verfielen sie
der Gier. Und die Beständigkeit des elfischen Lebens fehlte den Zwergen
ebenso wie den Menschenwesen. Zwar hatten sich die Menschen mit den
grünen Umhängen durchaus Verdienste erworben, doch die Treue dieser
sterblichen Wesen währte nur so kurz wie ihre Lebensspanne. Er hatte das
schon oft erlebt. Sechs der sieben Menschenreiche waren zerfallen, weil
Uneinigkeit und Gier in ihnen geherrscht hatten. Das Schicksal des
vergangenen Reiches Rushaan hätte den Menschen eine Mahnung sein sollen,
doch sie lernten nicht aus ihrer Vergangenheit, sondern eiferten den Fehlern
ihrer Vorfahren nach. Sie kannten nicht einmal Bücher, durch die das
unendliche Wissen des elfischen Volkes bewahrt wurde. Nein, es war gut, das
Land zu verlassen und nicht in den Sog vergänglichen Lebens hineingezogen
zu werden.
Der Pfad zu den Häusern der Elfen führte an jenen Bergen vorbei, unter
denen sich eine der Zwergenstädte befinden sollte. Kundschafter hatten
berichtet, die Stadt sei bei einem Erdbeben zerstört worden, aber Nendas
kannte die Fähigkeit des kleinen Volkes, sich im Verborgenen zu halten. So
achtete er auf Spuren von ihnen, während er den Pfad entlangeilte und dem
Verlauf der Berge und Täler folgte, mal hoch über dem Talgrund, dann mitten
durch ihn hindurch. Wer diesen Weg nicht kannte, würde ihn nur durch Zufall
finden, und selbst wenn ein Feind darauf stieß, so war er so schmal und
schwer zu begehen, dass der elfische Posten am Ende des Pfades kaum Mühe
haben würde, einem Angriff zu begegnen.
Der Tag neigte sich erneut seinem Ende zu, und Nendas beschloss, an
einer geeigneten Stelle zu rasten und das Tageslicht abzuwarten, bevor er
seinen beschwerlichen Weg fortsetzte. Er suchte sich einen Platz unter einem
Felsüberhang, der ihn vor einem möglichen Steinschlag schützen konnte,
trank etwas Wasser und nahm ein paar Bissen der elfischen
Marschverpflegung, die aus einer Mischung aus Brot, Gemüse, Früchten und
Fleisch bestand. Dann legte er seine elfische Klinge und den Bogen griffbereit
neben sich und hüllte sich in seinen blauen Umhang. Er konzentrierte sich
einen Moment auf die Entspannungsübungen und schlief dann mit der
Gewissheit ein, beim ersten Licht des neuen Tages zu erwachen. Seine
Instinkte, geschult in einem fast ewigen Leben, würden ihn zuverlässig
wecken, wenn Gefahr drohte.
Die Spitzen der Berge im Osten verfärbten sich gerade rot, als er am
nächsten Morgen erwachte. Die Nacht war kalt gewesen, und gefrorener Tau
überzog die Steine und den Umhang, der den Elfen zuverlässig warm
gehalten hatte. Nendas erhob sich, schüttelte den Umhang aus und legte ihn
sich um die Schultern. Er nahm sich die Zeit, den Sonnenaufgang zu
genießen, während er ein paar Schlucke Wasser trank. Nach all den
Jahreswenden, die er nun schon lebte, hatte dieses morgendliche Farbenspiel
nichts von seiner Faszination verloren: der Wechsel vom tiefen Rot über ein
orangefarbenes Glühen bis zu dem strahlenden Goldgelb, mit dem sich das
Himmelsgestirn dann über den Horizont erhob. Sofort spürte der Elf die Kraft
der wärmenden Strahlen. Schon in wenigen Augenblicken würde der Reif
geschmolzen und der Pfad wieder trocken sein. Er schob das Schwert in die
Scheide, gürtete den Pfeilköcher und hielt einen der Pfeile am Bogen bereit.
Dann folgte er weiter dem Pfad.
Schritt um Schritt führte ihn der Weg den Häusern weiter entgegen. Noch
einmal wand er sich um einen Berg herum, dann würde Nendas auf die
hölzerne Brücke stoßen, die ein Stück zerstörten Pfades ersetzte. Obwohl er
dann