Die Pferdelords 06 - Die Paladine der toten Stadt. Michael Schenk
der Einzelne musste aus seiner Geschichte lernen,
sonst hatte keiner von beiden eine Zukunft. Eine Weisheit der Elfen, der
Dorkemunt aus ganzem Herzen zustimmte.
»Der Sturm legt sich.« Kormund hob lauschend den Kopf, und die anderen
taten es ihm gleich.
»Du hast recht, alter Freund.« Dorkemunt erhob sich, trat an eines der
Fenster und öffnete den Rahmen mit der wertvollen Klarsteinscheibe. Früher
waren die Fenster des Gehöfts mit Schafdarm bespannt gewesen und hatten
wenig Licht hereingelassen und kaum Ausblick nach draußen geboten. Doch
inzwischen florierte der Handel, und der durchsichtige Klarstein hielt überall
Einzug in den Häusern. Er bot freie Sicht, war fast ohne Schlieren und, zu
Henelyns Entzücken, leicht zu reinigen. Der kleine Pferdelord stieß den
Sturmladen auf und atmete tief durch. »Ja, das Unwetter ist vorbei. Noch
etwas Regen, aber kein Eis mehr in der Luft, und es klart schon wieder auf.«
»Dann sollten wir aufbrechen.« Kormund erhob sich. »Ich würde es
begrüßen, gute Frau Henelyn, wenn Terwin noch ein wenig bei Euch bleiben
könnte.«
»Das ist selbstverständlich, guter Herr Scharführer«, erwiderte sie
freundlich. »Ich hätte es ohnehin nicht zugelassen, wenn Ihr ihn nun schon
hättet mitnehmen wollen. Er muss sich erst erholen, bevor er wieder ein Pferd
besteigen kann.«
»Unter Eurer kundigen Pflege wird das rasch geschehen«, versicherte
Kormund lächelnd. »Dorkemunt, mein Freund, lass uns nachsehen, ob das
Gehöft Schaden genommen hat. Wir werden erst reiten, wenn alles in
Ordnung ist.«
Aber Gebäude und Tiere hatten den Gewittersturm unbeschadet
überstanden. Dorkemunt und Henelyn standen mit den Kindern vor dem
Haupthaus, als Kormund mit seinen Begleitern aufsaß und den Bewohnern
des Gehöfts zum Abschied zunickte.
»Grüß mir Nedeam, alter Freund«, rief Dorkemunt dem Scharführer nach.
»Darauf kannst du dich verlassen«, erwiderte dieser und gab das Zeichen
zum Aufbruch.
Die Hufe der Pferde patschten über den aufgeweichten Boden, als die
kleine Gruppe aus dem Seitental in das weite Haupttal ritt, durch das die
Handelsstraße der Mark verlief. Links führte der Weg in die Hochmark
hinein, zu den großen Weilern und schließlich zur Stadt und Festung von
Eternas. Rechts ging es zum südlichen Pass mit seiner gut bewachten
Schlucht, der die Verbindung zu den anderen Marken des Pferdevolkes schuf.
Ein Stück voraus erkannte man den Turm, der sich am Nordende des Passes
erhob. Er war von einer kleinen Wachtruppe der Schwertmänner besetzt und
trug eines der Signalfeuer, welche die Marken miteinander verbanden und bei
Gefahr die Pferdelords zu den Waffen riefen. Unterhalb des Turms erkannte
man den Einschnitt, der in die Schlucht hineinführte.
»Bewegung am Pass, guter Herr Kormund«, sagte Buldwar in die Stille
hinein.
»Habe ich gesehen.« Kormund verengte die Augen. »Das sieht mir nicht
nach den Wagen eines Handelszuges aus. Buldwar, deine Augen sind besser.
Was kannst du erkennen?«
»Eine kleine Marschkolonne. Eine Handvoll Reiter und etwas Fußvolk.«
Buldwar stieß einen überraschten Laut aus. »Ein blaues Elfenbanner. Ah,
Scharführer, es scheint, als würde die Mark Besuch von den Elfen
bekommen.«
»Elfen?« Kormund reckte sich im Sattel und blickte unbewusst in
Richtung Eternas. »Das ist wahrhaftig ein seltener Besuch. Elfen verlassen
die Länder ihrer Häuser nicht ohne guten Grund. Da wird es wohl interessante
Neuigkeiten geben. Kommt, Männer der Mark, lasst uns die Gäste begrüßen
und nach Eternas geleiten.«
Die Reiter trabten an, und je näher sie der kleinen Formation der Elfen
kamen, desto mehr verspürte Kormund Unbehagen. Die Elfen waren Freunde
des Pferdevolkes und hatten Seite an Seite mit ihm gefochten. Dennoch war
es ungewöhnlich, dass sie die Hochmark aufsuchten, noch dazu, wie
Kormund feststellte, mit Elodarion und Jalan, den Führern von zweien ihrer
Häuser. So sehr es ihn auch freute, sie nun in der Hochmark willkommen zu
heißen, so spürte er doch mit dem Instinkt eines Pferdelords, dass der
unerwartete Besuch nichts Gutes zu bedeuten hatte.
Kapitel 4
Nendas aus dem elfischen Hause Tenadan, dem Geblüt des Waldes
entstammend und unter dem Zeichen der Wildblüte geboren, war ein
erfahrener Kämpfer, der schon viele Schlachten gesehen und überstanden
hatte. Er gehörte nicht zu den ältesten Elfen, und doch hatte er schon manches
Menschengeschlecht entstehen und wieder vergehen sehen. Im Gegensatz zu
vielen seiner Art hatte er nie das Interesse an dem verloren, was sich
außerhalb der elfischen Häuser ereignete. Er war fasziniert davon, wie viel
sich in den anderen Reichen veränderte, die einem steten Wandel unterworfen
waren, während die Häuser der Elfen als ruhende Pole erschienen, fern jeder
Hektik eines endlichen Lebens.
Nun würden die Häuser des elfischen Volkes zu den Neuen Ufern reisen.
Ein fernes und verheißungsvolles Land, das es zu entdecken und zu
erforschen galt. Nendas freute sich darauf und war froh, das alte Land, das
vom Untergang bedroht war, bald verlassen zu können. Der endlos
scheinende Kampf gegen den Schwarzen Lord und seine Orks zehrte an den
Kräften der elfischen Häuser, während die Legionen der Finsternis in ihren
Bruthöhlen raschen Nachschub erhielten. So würden sich die Menschen bald
allein der Finsternis entgegenstemmen müssen, und niemand vermochte zu
sagen, ob ihnen dies gelingen würde.
Nendas hatte den Vorposten von Niyashaar vor einigen Tageswenden