1932. Helmut H. Schulz

1932 - Helmut H. Schulz


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eine historische Farce angesichts des lettischen Unvermögens, über die Zeiten eine eigene Hochkultur herauszubilden.

      Der nationale Enthusiasmus dieser Bauern und Tagelöhner, angeheizt von ein paar ehrgeizigen Pfaffen, von demagogischen und ultranational gestimmten Volksschullehrern genährt, werde alsbald in Dumpfheit verlöschen; so glaubte man. Es kam anders ....

      Rote russische Verbände hatten leichtes Spiel mit dem vollständig offenen Gemeinwesen, einem von allen Verteidigern entblößtem Riga. Sie besetzten die Stadt, und sie errichteten ein Schreckensregiment. Unter ihren ersten Opfern war auch der Gardekapitän Sustschin, der, zusammen mit ungezählten anderen hingerichtet, von den Kugeln eines Exekutionskommandos durchsiebt, in eines der Massengräber geworfen wurde. Dem heiß aufschäumenden spontanen Rachegelüst roter Kommandeure und lettischer Schützen folgte der geordnetere Wahn ziviler Vollstrecker der sozialistischen Revolution. Es war ein kurzer und ein schrecklicher Traum. Das Freikorps, die Baltikumer unter einem General von der Goltz befreite die Stadt, ohne sie zu besetzen oder einzurücken. Aber der Weltkrieg hatte sein Gesicht entscheidend verändert, er war zu einem immerwährenden Bürgerkrieg geworden ....

      Nach seinen Erlebnissen in der Periode roter Schreckensherrschaft, gemäß seinen Überzeugungen und familiären Verpflichtungen getreu all seinen Überlieferungen, nahm Hermann Einar die Waffe; er trat ins Freikorps, in die Eiserne Division ein, und er hatte bessere Gründe für diesen Schritt als manch ein anderer der Baltikumer, der hier das Abenteuer suchte. Seine Schwester lebte wieder unter seinem Dach, dem des mächtigen alten Hauses in der Bremer Straße; sie sollte seiner jungen unerfahrenen Frau eine Stütze sein, hoffte der Anwalt, ehe er in den Krieg zog, dessen Ende und Ausgang nicht absehbar war. Ihn selber überraschend, da ihm alle Fronterfahrung fehlte, und er sich für friedliebend gehalten hatte, wurde dem lang-aufgeschossenen Deutsch-Balten seine Zeit im Freikorps zu einem tiefen, ihn verändernden inneren Erlebnis und zur Selbsterziehung. Kein Jüngling mehr, war er in einen ungeheuren hundertjährigen Krieg hineingeworfen worden, einen großen kontinentalen Bürgerkrieg ohne Gnade und Erbarmen ...

      Auf Drängen der Entente rief die Reichsregierung das Korps zurück, die Verbände sollten aufgelöst werden. Zwar versuchte es von der Goltz, die Armee als Ganzes zu erhalten, vergeblich. Die Eiserne Division ließ sich allerdings nicht entwaffnen. Einar, zum Oberleutnant aufgerückt, sah deutlich genug, wohin die Verhältnisse im nordöstlichen Europa politisch trieben. An einer Wiederherstellung der Vorkriegsverhältnisse im Baltikum war den Weltkriegssiegern nicht gelegen. Sie hatten die Macht; ihren Zielen dienten vielmehr weit eher die kleineren Kunststaaten, einer Zentralgewalt entgegengerichtet. Divide et impera; die lettische Unabhängigkeitsbewegung erhielt ihre Unterstützung, die deutsche Reichsregierung musste sich der Macht der Entente beugen. Zuerst trat ein Teil des Korps zur lettischen Landwehr über, ein anderer schloss sich dem Söldnerführer Awaloff-Bermondt an, um im tiefen Rußland einen Krieg zu führen, der sie nichts anging. Beides erwog Einar nicht einmal; es kam für ihn nicht in Betracht. Und er hatte richtig vorausgesehen, als er annahm, dass sich die Kontrahenten auf dem östlichen Kriegsschauplatz bald arrangieren würden ...

      Im alten deutschen Schwarzhäupterhaus wurde der Friedensvertrag zwischen Letten und Russen allein deswegen unerwartet rasch geschlossen, weil beide Seiten bei diesem Frieden politisch gewannen. Er sicherte den Letten die staatliche Selbständigkeit zu, auf Kosten der Deutschen. Zu den ersten Erlassen der neuen Republik gehörte denn auch die entschädigungslose Enteignung alten deutschen Grundbesitzes, darunter fiel das Haus der Einars in der Bremer Straße. Da er mit Haftbefehl des neu geschaffenen Staates gesucht wurde, tauchte der Anwalt unter, er lebte in Kellern und zog von einem seiner deutschen Klienten auf dem Lande westlich der Düna zum anderen auf die lettgallische Seite. Eine Dauerlösung war dieses Hin und Her nicht. Einar musste ein Verfahren der Republik gegen ihn auch tatsächlich fürchten; er hatte sich allzu oft an der Exekutionen lettischer Schützen beteiligt, eine normale, von den kriegführenden Parteien geübte Praxis; niemand machte Gefangene. Sie wären eben nicht unterzubringen und zu versorgen gewesen. Freigelassen, hätten sie den Kampf fortgesetzt. Es war kein gewöhnlicher Krieg, den sie gegeneinander führten; dieser Krieg ging sie wirklich an. Er glich einem Glaubenskrieg, der den ins Recht setzt, der ihn gewinnt. Dem Anwalt und Freikorpsoffizier blieb nur die Flucht. Vielleicht hätte man ihm einen Scheinprozess gemacht, bevor er hingerichtet wurde. Allein am Ausgang des Verfahrens würde auch ein halbwegs rechtsstaatliches Prozedere wenig geändert haben. Einar handelte rasch und mit Umsicht, er vertraute seine hochschwangere Frau der Obhut seiner Schwester an, der verwitweten Baronin Sustschina-Einar, mit genauen Weisungen für die gefährliche Fluchtreise ins Reich. Für sich selbst erwarb er von einem seiner Klienten Pferde, kaufte dazu einen großen Reiseschlitten, den er mit Sachen vollstopfte, die er nicht entbehren wollte, und verließ bei Nacht und Nebel die geliebte Heimat, aber mit dem Schwur, dereinst zurückzukehren, das Seinige wieder an sich zu nehmen und seinerseits Rache zu üben. Ihm gelang das beinahe Unglaubliche. In einer langen abenteuerlichen Reise durchquerte er Rußland in Richtung Osten, überwinterte zweimal, das eine Jahr im sibirischen Prokowskoje, dem Geburtsort des Starez Rasputin, setzte die Flucht im Sattel und mit Packpferden oder zu Fuß in unwegsamer Tundra und dichten Urwäldern fort, erhielt sich durch die Jagd mit Büchse und Falle und Fischfang; er hauste wochenlang in Erd- und Schneehütten, schlief bei Tieffrösten am einsamen Lagerfeuer unter dem sternübersäten Himmel Sibiriens, durchzog im zweiten Winter mit nomadisierenden Rentierzüchtern die Taiga, immer weiter nach Osten und erreichte endlich nach einer mehr als zweijährigen Reise sein Ziel, den Pazifikhafen Wladiwostok. Diese beiden Jahre hatten ihn unwiderruflich verändert; er war zum Krieger und Jäger geworden, mit allen lebenserhaltenden Instinkten von Jägern und Kriegern. Eine Rückkehr in die Behaglichkeit und Ruhe der wilhelminischen Ära wäre ihm verwehrt gewesen, und er wünschte sie auch nicht mehr zurück. Er fühlte sich stark, auf der Höhe seiner physischen und geistigen Kraft. Was einen anderen umgebracht hätte, ließ ihn gesunden ...

      Sein Sohn Moog kam noch in Riga zur Welt. Von der religiösen Schwärmerin, der liebenden, russifizierten Gattin des Gardekapitäns Sustschin, häutete sich die Baronin Sustschina-Einar zur tatkräftigen Hanseatin zurück. Ihr Leben war gefährdet, und wenn nicht ihr Leben, so rechnete sie als Sustschins Witwe doch mit Verfolgung, mit Haft und Drangsalierungen. Sie hatte alles verloren, was nicht beweglich. Um das Haus in der Bremer Straße zu räumen, ließen ihr die Behörden doch einige Wochen, in der Hoffnung, den gesuchten Mann Einar zu fangen. Die Baronin stand nach der Flucht ihres Bruders ganz auf sich. Alles vorausahnend war er mit ihr die Einzelheiten ihrer Flucht durchgegangen. Nun befolgte sie seinem Rat, sich ein Boot zu suchen, es zu kaufen oder zu mieten, da der Landweg zu schwierig und ohne Hilfe mit einem Säugling unmöglich zu bewältigen war. Er hatte ihr ausreichend Mittel verschafft, Geld in Dollar und englische Pfund, sichere Zahlungsmittel in jener Zeit und etliche leicht zu veräußernde Sachwerte, wertvollen Schmuck. Dieser Besitz war in einem kleinen Koffer verwahrt, den die Baronin nicht aus den Augen lassen durfte. Sie besaß eine Pistole und war entschlossen, sie zu gebrauchen, sollte es nötig werden ....

      Sie musste nur irgendwie bis Stettin kommen, keine sehr große Entfernung unter normalen Umständen. Mitten im Winter, bei leichtem Frost und Eisgang segelte sie mit einem alten Fischkutter über die Bucht hinaus auf die Ostsee, einen Säugling und die fiebernde Schwägerin unter ihren Fittichen, und zwei Fischern Mut zusprechend, die sich zwar vor keinem Wetter fürchteten, wohl aber vor den lettischen Patrouillenbooten. Die Überfahrt bei Schneetreiben und Kälte, ohne ein anderes Fortbewegungsmittel als brettsteif gefrorene Segel, blieb ihr als ein großes Erlebnis in Erinnerung, galt ihr als die Bewährungsprobe ihres Lebens. Ihre Aufgabe in dieser Welt schien sich mit der Rettung des Neffen und der Schwägerin erfüllt zu haben. Schiffer und Bestmann waren ihr schließlich völlig ergeben; sie brachten den Kutter bis Swinemünde. Die Baronin zahlte großzügig, entließ Besatzung und Schiff, brachte Schwägerin und Neffen nach der Weisung ihres Bruders bei einer befreundeten Familie unter und reiste ohne längeren Aufenthalt weiter nach Berlin. Einar hatte ihr empfohlen oder vielmehr befohlen, sich in der alten Reichshauptstadt, dem alten und dem künftigem Zentrum des politischen und kulturellen Deutschland, nach einem Quartier für sie alle umzusehen, übergangsweise, bis zu ihrer Rückkehr ins Baltikum. Für ihn wie für sie bestand kein Zweifel, dass sie alsbald wieder zusammentreffen und heimkehren würden, wenn sie am Leben blieben. Ihr Vertrauen zu ihm war bedingungslos, sie selber


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