1932. Helmut H. Schulz

1932 - Helmut H. Schulz


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Kontrolle über sich bewusst auf, wurde launisch und unberechenbar. Und analog veränderte sich die Baronin. Jünger als ihr Bruder schien sie auf ein eigenes Leben immer stärker Verzicht zu leisten, nicht nur weil sie ihm und seinem Sohn diente. Isolde, die Gattin des Anwalts blieb von diesen inneren Schwingungen des problematisch veranlagten Geschwisterpaars unberührt. Ein wenig schien sie neben diesen beiden herzuleben, sie war naiver, wurstiger, weniger von Leidenschaften bedroht. Man nahm sie, wie sie war, das heißt, bei aller Liebe, die der Anwalt für sie empfand, nicht für voll. Dazwischen hatte das Schicksal den jungen Sohn Einars gestellt. Für ihn sollte alles getan werden, um ihn glücklich zu machen ...

      Moog also, ein nordischer Odysseus, wenn man die Fluchtreise als eine geplante Irrfahrt ansehen will, blieb der vorerst letzte Einar. Einst waren seine Ahnen über die Bucht nach Livland gekommen, um den Heiden die westliche Arithmetik des Schwertes und der Buchführung zu bringen. Sie hatten ihre Ordnung, ihre Kultur, ihre Sprache in das neue Land eingepflanzt, andere unterworfen, sie waren selbst unterdrückt worden, mussten mit der moskowitischen Lebensweise ins Reine kommen und hatten zuletzt alles verloren.

      Hier würde die Geschichte Moogs enden, wären die Zeiten beschaulicher gewesen, aber Moog war nicht nur Einars Sohn, nicht nur der auserwählte Neffe der Baronin Sustschina-Einar, er war auch Zeitgenosse und Opfer einer revolutionären Ära. Alle Erzieher des Menschengeschlechtes trachten danach, einen neuen, einen von Grund auf verbesserten und tief geläuterten Menschen in die Natur- und Humangeschichte einzubringen. Auf Biegen und Brechen, also eher auf Brechen, waren all diese sozial-pädagogischen Programme gegen die menschliche Unvollkommenheit durchzusetzen, was Hermann Karl Einar, der Krieger, nach Anschauung und nach seiner Überzeugung als einen hundertjährigen, einen ewigen Krieg bezeichnete.

      1. Kapitel

      BERLIN. Einar, Moog Hermann Karl durchwandert das Labyrinth des Bahnhofes Friedrichstraße, eine imposante mehrgeschossige Konstruktion unter- und überirdischer Bahnsteige, Treppen, Schleusen, Türen, Schalter und Aufzüge. Er passiert die erste einer Reihe von Kontrollstationen, reicht seinen Reisepass hin, nimmt nach Aufforderung seinen Hut herunter, zeigt gleichmütig seine linke, dann die rechte Seite seines Profils und wartet das Ergebnis der Prüfung ab. Im Inneren des Schalters wird gegenwärtig sein Pass untersucht, werden seine Lebensdaten in den Rechner eingegeben. Die Erlaubnis zur Einreise in diese Stadt, Berlin Hauptstadt der DDR, hängt vom Ergebnis der Überprüfung seines Passes ab. Nicht dass er Grund zur Unruhe hätte, keinen aktuellen jedenfalls; zudem ist er solche Prozeduren auf Reisen gewöhnt. Hier jedoch wundert es ihn immer wieder erneut, dass er beim Übergang von der einen auf die andere Seite nicht nur den Staat, die Ordnung wechselt, sondern dass er seine innere Mitte verliert, ein anderes Ich, das Alter Ego eines Fremdlings verliehen bekommt.

      Am nächsten Schalter erhält er seinen Pass zurück; es ist ihm erlaubt, sich vierundzwanzig Stunden lang in dieser Stadt aufzuhalten. An einer der nächste Kontrollstellen wird der Inhalt seiner Reisetasche durchgesehen. Sie enthält einige Gegenstände, die Moog Einar auf Reisen nicht entbehren mag, das Rasierbesteck etwa, kleinere Wäschestücke, manches andere noch. Merkwürdigerweise beanstandet der Zöllner das Fehlen von Büchern; ihm fällt auf, dass ein Reisender mit Kurzaufenthalt im Berliner Osten, ein Doktor phil. ja immerhin, nichts Entsprechendes mit sich führt, sei es, um einem Verwandten, oder einem seiner Fachkollegen zuzuschmuggeln, was dieser nicht besitzen darf, keine Literatur, kein Buch der anderen Seite, keine Zeitungen und Zeitschriften. Listig erklärt der im Wechseln seiner Identität erfahrene Einar dem Zöllner die reale Lage, dass seines Wissens Mitnahme wie Einfuhr jeglichen bedruckten Papiers als in hohem Grade staatsgefährdend den sofortigen und sogar dauernden Ausschluss von den Reiseerleichterungen im innerdeutschen Verkehr nach sich zöge, es ihm daher geraten erschien, ohne belastenden Lesestoff zu einem Besuch der Stadt Berlin, Hauptstadt der DDR, aufzubrechen, und somit allen Verwicklungen aus dem Wege zu gehen, er, ein Rentner überdies und völlig harmlos. Schweigend wird Einars Deutung der Verhältnisse im kleinen Grenzverkehr nicht akzeptiert, er wird berichtigt, es handele sich nicht um den innerdeutschen, sondern um den Verkehr zwischen zwei souveränen, Hoheitsrechte ausübenden wahren Staaten, allerdings zufällig auf deutschem Boden liegend. Er darf jedoch die überprüften Gegenstände eigenhändig einpacken, was er ohne zu murren tut, er wendet sich einem der Ausgänge zu, muss noch die Eintrittsgebühr in die Stadt entrichten und wird endlich nach einer letzten und schon recht oberflächlichen Kontrolle ans Tageslicht entlassen ...

      Nun wundert es ihn aber doch, nicht darüber befragt worden zu sein, welchen Geschäften er denn an diesem vierten Novembertag des Jahres 1989 nachzugehen gedenke, eines besonderen, eines bedeutenden Tages, wie sich erweisen wird. Und er selber hätte kaum darauf eine genaue Antwort geben können. Es war eben ein Zufall, kein dringend notwendiger Besuch steht auf seinem Tagesprogramm, eine Visite, von der er nicht weiß, wie sie ausgehen wird, vor der er sich länger als ein Jahrzehnt gedrückt hat. Indessen ist Einar schon ein Stück in die ihm gut bekannte Friedrichstraße hineingekommen, kurz vor der Weidendammer Brücke hält er und blickt auf das trübgraue Wasser der Spree und vor ihm liegt ein gewaltiges Pensum Stadt und deutscher Geschichte, ein Lehrkapitel für Moog Einar, seiner Profession nach ein Historiker für neuere Geschichte. Viele Jahre ist er nicht hier gewesen, seit dem Tode Isolde Einars, seiner Mutter, nicht mehr. Es gab einfach keinen Grund, Berlin aufzusuchen. Er ließ sie im Norden der ausgedehnten Stadt zur letzten Ruhe betten, in der Familienruhestätte der Einars, obschon sie nie eine Einar gewesen ist und keine hätte werden können. Und obendrein die erste und einzige Tote des Familiengrabes, einer Ruhestätte seinerzeit für eine Ewigkeit angelegt. Totensonntag steht vor der Tür; und es gehört wohl zu den über die Tage hinausgehenden Sohnespflichten, ihr einen Kranz oder wenigstens einen Handstrauß aufs Grab zu legen, das übrigens von den Friedhofsgärtnern gepflegt wird.

      Einar entscheidet keinen Besuch der Grabstätte, nicht heute, zu weit bis hinaus nach Weißensee, endlose Lauferei dazu. Nun, ihm, einem alternden Streithahn, Schwertbruder und abgedanktem Historiker wird sicherlich neben manch anderem liegengebliebenen auch diese Unterlassung nachgesehen werden. Einem Einfall folgend, vielleicht durch den Anblick eines der gerade frei vorbeibummelnden Taxis ermuntert oder angeregt, hält Einar das Auto an und nennt eine Straße in Treptow, die Straße, die heute vielleicht ganz anders heißt, als damals, um das Haus zu suchen, in welchem er einige Zeit gelebt hat, die Kinderjahre und etliche seiner Jugend. Der Fahrer, im Bilde über den Fahrgast, wie es scheint, beobachtet ihn verstohlen im Rückspiegel, vielmehr beobachten sich beide, der im Fond und der am Volant. Einar hat wenig Lust, sich in ein Gespräch einzulassen; er lebt gerade inkognito, er hat soeben die eine Persönlichkeit abgegeben und will es nicht riskieren, entweder als der erkannt zu werden, der es ist und einmal war oder aber in eine weitere Rolle hineinzukommen. Lange dauert die Fahrt bis Treptow ohnehin nicht. Würde er den Weg durch das Zentrum genommen haben, wäre er Zeuge einer Veranstaltung geworden, die Folgen zeitigte.

      Er steht auf der Straße, er ist erstaunt, wie wenig sich hier verändert hat. Diese Allee war einst sehr ruhig, ihre Rückfront scheint auch heute noch zeitlos-still zu sein, bis auf die vorbeirasselnden Züge der S-Bahn, der Park gegenüber war wie eine Oase, zumindest in seiner Erinnerung. Das heruntergekommene Haus aber zeigt auch heute noch, was es einst gewesen, eine teure Residenz für Ärzte, Anwälte, Akademiker. Die Fassade mit Erkern und Balkons, mit hohen und breiten Fenstern, mit steinernen Figuren neben der Eingangstür erzählt von Wohlstand und von Verfall. Hier residierte einst Moogs Vater, der Anwalt und Strafverteidiger Doktor Einar sen., hier empfing er die Klienten, befehligte er seine Referendare und seinen Bürovorsteher und dieser die Kanzlisten; zuzeiten wimmelte es fast von angestellten und hospitierenden Jüngern der Jurisprudenz, Zivilisten und Uniformierten. Zuweilen überließ Einar auch die vielen Amtsgeschäfte seiner Schwester; der berühmte Strafverteidiger zog sich zum Aktenstudium zurück, erschien wieder auf der Bildfläche, voller Tatkraft, möbelte sein Büro auf, hetzte von Termin zu Termin, sich und seine Untergebenen nicht schonend. Die letzten Jahre von Weimar, dieses von politischen Leidenschaften überkochende Berlin ließen dem Anwalt kaum noch Zeit zu stiller wissenschaftlicher Tätigkeit; er hatte ein Reichstagsmandat der NSDAP inne, er zählte nicht zum engsten, wohl aber zum engeren Kreis der politischen Führung der SS; seine gesellschaftlichen Beziehungen waren weit verzweigt.

      Das Notariat der


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