1932. Helmut H. Schulz
lassen; auf den Aktentischen und Ablagegestellen türmten sich die Handordner, Zeitungen und Zeitschriften und lose Blattsammlungen neuer Erlasse und Gesetzesnovellen. Die eine Wandhälfte war überdies dem großen Areal von Gesetzesbüchern und Nachschlagewerken vorbehalten. Von diesem Raum aus gelangte der zugelassene Klient in den Arbeitsraum des Anwaltes, dem Allerheiligsten, dem inneren Bereich der ganzen Kanzlei. Der Anwalt beaufsichtigte und verwaltete die Vermögen zahlreicher Politiker und manche Nachlässe oder Vermächtnisse. Hinter dem Schreibtisch Einars war eine mächtige, übermannshohe Metallplatte in die Wand eingelassen, die im Halbrelief ausgeführte Figur eines mit weit gespreizten Beinen prunkenden Ordensritter, den weißen Mantel mit dem schwarzen Kreuz der Brüder vom Deutschen Orden über dem Brustharnisch, das blanke breite Schwert mit der Spitze vor sich in den Boden gepflanzt, die in Stahl steckenden Hände über dem Griff gekreuzt. Hinter dem halb geöffneten Helmvisier war kein Gesicht zu erkennen, ein Panzerreiter, eine trotzige Kampfmaschine ohne Antlitz. Vor diesem Bildwerk pflegte die Sustschina, die Tante, ihrem jungen Neffen die Glaubenslehre der Einars zu verkünden. Er kannte die Geschichte des Ordens, den Aufstieg und Fall in der Schlacht bei Tannenberg gegen das vereinigte polnisch-littauische Heer, kannte die tragische Gestalt des Hochmeisters Ulrich von Jungingen, wusste all die überlieferten Namen der Verteidiger der Marienburg auswendig, ehe er lesen gelernt hatte; die Tante sprach ihm von den leuchtenden Stränden der Bucht, erzählte von der düster-schönen Stadt Riga, ihren prächtigen Häusern, dem mächtigem Palais der Einars in der Bremer Straße, dem Fleiß und der Macht der Deutschen neben den Russen. Im Bücherschrank des Vaters waren die Fotos mit dem sagenhaften Fluchtschlitten Einars aufbewahrt, nein, eingeschreint, er selber in der Wolfsschur mit einem Gewehr in den Händen, ein hagerer, bärtiger Mann mit blitzenden Augen. Hier stand aber auch die Prachtausgabe der Werke Puschkins in Goldschnitt und geprägtem Leder, stand manch kyrillisches neben den deutschen Klassikern, Herder zumal, Goethe, Hölderlin, wurde die riesige alte Familienbibel gezeigt, kaum zu bewegen für einen Knaben und um die halbe Welt mitgeschleppt. Im Arbeitszimmer roch es nach Juchten und nach Tee, nach dem süßlich duftenden leichten Tabak orientalischer Zigaretten, nach Gewehröl aus dem offenen Waffenständer. Berlin besaß damals eine bemerkenswert große russische Kolonie. Die Mehrzahl der adligen Emigranten zog den Berliner Westen als Wohnsitz vor; sie mieteten sich in die stattlichen Häuser in Wilmersdorf ein. Sie wirtschafteten in teuren Pensionen, falls sie Geld genug hatten. Für einige war Berlin nur Durchgangsort, sie reisten weiter nach Paris, London, wanderten nach Amerika aus, durchzogen den Kontinent, aber sie kamen, solange sie auf Papiere und Geld warteten, häufig zum Anwalt; ehemalige Fürsten, hohe zaristische Beamte nahmen bei ihm und der Baronin Sustschina-Einar ihren gewohnten Tee, kamen, um russisch zu sprechen, sich wie in Rußland zu fühlen.
»Nun, German Karlowitsch, Sie haben es hier wie in St.-Petersburg, nicht wahr?«
»Gewiss, Exzellenz, übrigens ein Verdienst meiner Schwester, der Baronin.«
Die Geschäfte gingen gut, mit glücklicher Hand erwarben die Geschwister einige Häuserkomplexe hinzu; sie bebten vor Tatendrang, entschieden schnell und kühn. Seine Prozesse führend, vorsichtig abwägend, setzte sich der Anwalt bei den Gerichten durch. Tagelang überließ er seiner Schwester die Aufsicht über Praxis und Geschäfte, betraute sie mit heikler Korrespondenz. Selten musste er an ihren Maßnahmen etwas bessern; seit ihrer Flucht über die Ostsee hatte sich die Baronin endgültig gefunden; sie war ihrem Bruder vollständig ergeben, wie er es erlernt hatte, sich auf ihre Instinkte zu verlassen ...
Moog betrat das Haus und suchte sich zu erinnern. Von seinem Zimmer aus hatte er die Kuppel der Sternwarte sehen können. Wurde der große Refraktor ausgefahren, dann stand der Knabe Moog gewiss am Fenster, ohne ganz zu verstehen, welchen Sinn und Zweck das gewaltige Rohr wohl haben mochte. Über seinem Arbeitstisch hing er eine Karte des Sternhimmels. Dieses stille Zimmer, sein Refugium und sein eigentliches Reich in dieser Welt, hatte er nicht lange bewohnen sollen. Es war beschlossen, ihn in die Fremde zu schicken. Nun, alles kam dann anders, in Folge der nationalen Revolution, aber Moog hatte zum ersten Male empfindlich gespürt, wie sehr er Schachfigur in der Hand des Vaters war, gelenkt von seinem Willen.
An einem Ende der Wohnetage, der zweiten über der Kanzlei, hatte sich die Baronin einquartiert, mit der Verwaltung ihrer Häuser befasst, mit den juristischen Aufträgen des Bruders und der Politik beschäftigt. Auch im inneren häuslichen Bezirk war sie der Motor, sie trieb den Neffen zum Lernen, die Schwägerin zur Überwindung ihres Bedürfnisses nach Ruhe und ihrem Hang zum Luxus an. Isolde, Moogs Mutter, repräsentierte die Einars nur ungenügend, nach Meinung der Tante. Gelegentlich hielt die Baronin, wie sie allgemein genannt wurde, in ihrem kleinen Salon Zirkel, zu welchem man in zierlich gestochener Schrift auf kleinen Kärtchen geladen wurde; einen Empfangstag lehnte sie als bürgerlich ab. Der Lebensstil ihres Bruders hätte auch keinen festen Tag zugelassen. Sie hielt Verbindung zu einigen Künstlern und Literaten der Stadt, nicht den Erstklassigen der Cliquen aus dem Berliner Westen, aber die ihr genehmen. Einer dieser gediegen arbeitenden, jedem bloßen Experiment abgeneigten, hatte nach einem Foto das naturalistische Ganzbild des ermordeten Gardekapitäns vor einem düsteren Hintergrund gemalt. Es maß anderthalb mal zwei Meter, beherrschte fast eine ganze Wand des Salons und gab der Baronin Gelegenheit, auf die Frage eines mit der Familiengeschichte nicht vertrauten Gastes, wer denn der imposante Herr auf dem Bild sei, zurückhaltende Antworten zu geben, es anderen überlassend, dem Fremden die Sache zu erläutern. Der Mann war tot, sie seine Witwe ...
Moog entsann sich des Verlegers Rewald, der eigentlich hier nichts zu suchen gehabt hätte, würde er nicht durch die Förderung eines Favoriten der Baronin, einem schriftstellernden jungen Offizier, des Privilegs teilhaftig geworden sein, ihren Salon zu beleben. Zu Rewald standen die Geschwister überdies in geschäftlichen Beziehungen; er war der Verleger des berühmten Buches, Einars großen Erlebnisberichtes, »Hinter den Linien«. Die Erlöse daraus waren beträchtlich, die Verbindung für beide Seiten vorteilhaft. Rewald, ein Riese mit mächtigen weißen weichen Händen, fleischig wie die Tatzen eines Bären und genau so empfindsam, machte sich wenig aus dem russischen Tee, aber er hatte seine Gründe, die Einladungen der Deutsch-Baltin anzunehmen und das wässrige Zeug aus ihrem Samowar zu trinken. Weiter pflegte sich regelmäßig ein stiller Mann im blauen Marinetuch einzustellen, der allgemein mit Kapitän angesprochen wurde, aber niemals das Wort nahm, was selten war in dieser aufgeregt redseligen Zeit, und der doch als ein bekannter Frondeur des Zeitalters galt. Dieser Mann, den der Anwalt in einem Prozess verteidigt hatte, als jener unter Anklage stand, Schiffbrüchige ermordet zu haben, der verurteilt worden war und entflohen, der unerkannt lebte, stand nun unter dem Schutz der Geschwister. Unter die Gäste mischten sich junge Leutnants und Fähnrichs aus dem baltischen Freikorps, sämtlich ohne Einkommen und alle ohne Zukunft, in schäbige Windblusen gehüllt, halb verhungert, aber von der Baronin mit Aufmerksamkeit behandelt, die ehemaligen Kriegskameraden des Anwaltes aus der Bürgerkriegszeit und von diesem mit kleineren Geldsummen unauffällig und taktvoll unterstützt. Frauen fehlten im Salon der Tante, ausgenommen sie selbst und die Schwägerin Isolde natürlich, Moogs Mutter. Auch der Anwalt versäumte selten eine dieser Soireen. Lachend bezeichnete er den Salon der Schwester als einen Gefechtstand ...
Moog musste in die Volks- oder Gemeindeschule gehen. Er traf auf Kinder des unteren Mittelstandes zumeist; er verabscheute ihren Geruch und er hasste ihre Gewohnheiten, wollte auf Distanz bleiben, sah sich als Sohn seines Vaters von allen Mitschülern und Lehrern umworben. Vater und Tante hatten ihm bedeutet, es gezieme sich für ihn, dieses deutsche Volk wo nicht zu lieben, so doch zu behandeln wie ihnen gleichgestellt, mochte es sich auch anders verhalten. Durch Einladungen seiner Klassenkameraden war der junge Moog in andere Wohnungen gekommen, und er hatte gesehen, wie sich weniger Wohlhabende als die Einars einrichteten, nämlich behaglicher. Bei ihm Zuhause standen in den Dielen zwar mächtige dunkle Truhen und hohe alte flämische Schränke, aber selbst im Esszimmer waren die steiflehnigen Stühle mit ihren Sitz- und Rückenleder aufgeprägten Motiven nicht eben zum Sitzen gut. Nur die kleinen Zimmer der Mutter und der Salon der Sustschina waren freundlicher und ein wenig möbliert, der mit Sesseln und zerbrechlichen Tischen, die gläserne Vitrinen waren angefüllt mit dünnwandigem kostbarem Porzellan und den speziellen russischen Lackschachteln und ihren Märchenmotiven. Das Speisezimmer der Einars, ein dunkler langer Saal, wurde nur selten genutzt und nie geheizt. Dort befanden sich um einen langen Tisch vierundzwanzig Stühle mit den Wappen der alten Hansestädte im schwarzen Leder, und