Die zwei Welten. L.R. Bäuml
können?“, meinte Michael aufgebracht und fuhr fort:
„Bevor ich das Gebäude verlassen habe, bin ich die Liste durchgegangen, in die man sich eintragen muss, wenn man einen Gefangenen besucht. Außer mir stand da niemand und die Aufseher können wohl kaum wissen, was wir in unserem Büro besprechen… Woher konnte sie es wissen?“
Thomas überlegte, wie er ihm glaubhaft versichern konnte, dass er es ihr nicht erzählt hatte, denn er war es nicht gewesen. Ihm war auch nicht ganz verständlich, warum sein Kollege so einen Aufstand machte. Vielleicht hatte es doch jemand gehört, wäre doch auch egal – außer es steckte noch mehr dahinter.
„Michael, was genau ist passiert, als du mit ihr gesprochen hast?“, fragte er voller Vorahnung. Doch als Michael allmählich anfing zu berichten, verschlug es auch ihm, einem erfahrenen Polizisten, die Sprache.
„Gerne würde ich dir auch die Tonbandaufnahme vorspielen,“ beendete Michael die Erzählung „doch diese enthält nur Rauschen.“
„Hattest du vielleicht vergessen, den Aufnahmeknopf zu drücken?“, fragte Thomas wenig hilfreich.
„Natürlich habe ich den Knopf gedrückt! Es hat ja auch aufgenommen, nur ist nichts zu hören!“, konterte Michael.
„Vielleicht liegt es ja daran, dass das Gerät zu sehr von Kleidung bedeckt war?“, überlegte Thomas.
„Ich hatte es, so wie heute Mittag bei dem Gespräch mit der Waisenhausleiterin, in meiner Hosentasche und diese Aufnahmen sind super. Obwohl das Gespräch auch noch draußen stattgefunden hat!“
Sie verstummten. Egal wie Thomas es drehte und wendete, keiner hätte sie hören und es ihr sagen können. Er nahm sich auch das Diktiergerät und machte ein paar Testaufnahmen, sowohl in, als auch außerhalb der Hosentasche, es funktionierte einwandfrei. Gerne hätte er einfach gesagt, sie sei halt verrückt und so sei es eben, aber wie konnte sie das mit den Drinks wissen? War es einfach nur eine Vermutung, die ins Schwarze getroffen hatte, weil sie gemerkt hatte, dass Michael von ihr angetan war? Das Diktiergerät war einfach nur ein Zufall und es hatte halt zu dem Zeitpunkt irgendeine Macke? Und wie passte der Autopsie Bericht zu ihrer Geschichte, dass sie Anna ‚indirekt‘ getötet hatte? Ach ja, der Autopsie Bericht, von dem wusste Michael noch gar nichts!
„Kurz nachdem du gegangen warst,“ brach Thomas das Schweigen, „kam der Bericht der Gerichtsmediziner rein. Anna ist ohne Gewalteinwirkung gestorben. Vergiftungen, oder sonstige äußerliche Einflüsse, können ebenfalls ausgeschlossen werden. Es war wohl ein natürlicher Tod durch Herzversagen.“
Michael saß für einige Zeit nur da und sagte nichts. Letztendlich meinte er jedoch:
„Dann werden wir sie wohl gehen lassen müssen.“
„Das werden wir wohl.“, antwortete Thomas „Soll ich sie vor der Entlassung noch fragen, woher sie von den Drinks wusste? Ich könnte bei der Gelegenheit auch noch einmal dein Diktiergerät ausprobieren.“
Michael nickte fast unmerklich.
Nach mehrmaligem Überprüfen des Diktiergeräts, machte sich Thomas auf den Weg zu ihrer Zelle. Er klopfte kurz und ging dann hinein. Sie war bereits wach und saß erwartungsvoll auf ihrem Bett.
„Guten Morgen, Nele“, sagte er.
„Guten Morgen, Thomas“, sagte sie.
Erschrocken sah er sie an:
„Woher weißt du, wie ich heiße?“
Sie lächelte sanft und meinte:
„Manche Dinge weiß man halt.“
Bestimmt hatte Michael ihr seinen Namen gesagt, dachte er, oder er hatte sich ihr doch mit Vornamen vorgestellt gehabt. Doch dann hörte er sie sagen:
„Michaels Diktiergerät funktioniert wunderbar, nicht wahr? Nur wenn ich in der Nähe bin geht es nicht. Du kannst es gerne noch einmal ausprobieren, sobald ich entlassen werde, aber ich verspreche dir, es liegt nicht an dem Gerät. Ich bevorzuge es, wenn Gespräche unter vier Augen bleiben.“
Sie lächelte ihn an, als sei dies die normalste Unterhaltung der Welt.
„Das war aber nicht alles, weshalb du gekommen bist, oder?“, fragte sie ihn daraufhin.
Als Thomas seine Fassung wieder fand, sagte er:
„Wer auch immer dir bereits erzählt hat, dass du heute entlassen wirst, kriegt aber so was von Ärger!“
Sie lächelte ihn an, verständnisvoll und wissend, und sagte in einem sanften Ton:
„Du weißt genauso gut wie ich, dass es mir noch niemand gesagt hat. Verstehe bitte, dass du, bevor ich dir eine Antwort auf die Frage, wegen der du wirklich hier bist, geben kann, einsehen musst, dass es Dinge auf dieser Welt gibt, die du noch nicht wahrgenommen hast.“
Sie wusste, weshalb er hier war, wie er heißt, dass sie entlassen wird, dass das Diktiergerät nichts aufgenommen hatte, obwohl es ihr niemand zuvor gesagt haben konnte. Er konnte keine Erklärung finden, die mit irgendeiner Logik, die er bis jetzt kennengelernt hatte, zu vereinbaren war.
Von daher fragte er, auf sämtliche Antworten gefasst:
„Was war es dann, was Anna getötet hat?“
„Das, mein Lieber,“ sagte sie traurig lächelnd „ist eine Frage, auf die ich ebenfalls eine Antwort suche.“
Kapitel 4
Sie wusste, dass er kommen würde, obwohl sie ihn nicht kannte, noch nie gesehen hatte, oder seinen Namen wusste. Er war das Teil in dem Puzzle, das all die Jahre gefehlt hatte, um es zu vollenden. Also fuhr sie zu der kleinen Holzhütte in den Bergen, in der sie schon so häufig ihre Schulferien verbracht hatte. Es war ein wolkenbedeckter grauer Tag gewesen; ihre Stimmung war nicht viel besser. Deshalb setzte sie sich in die kleine Küche, dachte nach und wartete.
Schon als sie klein gewesen war hatte sie bemerkt, dass sie anders als die anderen Kinder war. Dinge, die anderen verdeckt blieben, waren ihr zugänglich. Es schien, als würde sie intuitiv verstehen, was Menschen um sie herum fühlten, was sie bewegte, motivierte. So war es ihr auch möglich vorherzusagen, was sie als nächstes tun würden. Als sie in die Schule kam, wurde der Unterschied zu den anderen Kindern für sie noch stärker bemerkbar. Viele der Waisenkinder, die mit ihr wohnten, taten sich schwer, Dinge zu lernen. Sie hatte damit keine Probleme. Selbst schwierige komplexe Dinge erschlossen sich ihr, als hätte sie sie schon immer gewusst. Um nicht aufzufallen, passte sie sich jedoch so gut wie möglich den anderen Kindern an. Es kostete sie viel Kraft jemanden zu spielen, der sie nicht war. Und sie schien dies nicht gut genug getan zu haben, denn einer wurde auf sie aufmerksam: Der anonyme Spendengeber. Sie wusste, dass er Antworten zu ihren Fragen haben würde. Wobei ihr noch immer nicht klar war, warum gerade sie die Ehre erhalten hatte, von ihm unterstützt zu werden. Sicherlich waren noch mehr Leute da draußen, die genauso waren wie sie.
Nicht nur ergaben sich Zusammenhänge für sie schneller, sondern sie konnte auch Dinge wahrnehmen, die für andere nicht vorhanden zu sein schienen. Gewisse Kräfte, die einen Einfluss auf das Leben in dieser Welt haben – sowohl gute als auch böse. Je älter sie wurde, desto mehr nahm sie wahr. Zunächst war es nur das Gefühl, dass noch etwas anderes Lebendiges in der Nähe war, dann sah sie eine Art hellen Schatten und erst vor kurzem fing sie an, Umrisse zu erkennen, wobei diese aber noch zu unscharf waren, um genaue Formen zu erkennen. Niemals zuvor hatte sie so viel negative Energie gespürt, wie an dem Tag, an dem das Mädchen gestorben war. Aus einem Grund, der ihr verschlossen blieb, hatte diese Lebensart es auf das Mädchen abgesehen. Sie folgte ihm, um es zu beschützen. Doch wenn man nicht weiß, vor was genau man es eigentlich beschützen möchte, und auch nicht weiß, wie man das eigentlich genau anstellen soll, dann gestaltet sich das ein wenig schwierig. So kam es, dass das Mädchen, trotz ihrer Bemühungen gestorben war, und was auch immer der böse Schatten gewesen war, fast unbeschadet davon gekommen ist.
Es