Die Midgard-Saga - Jötunheim. Alexandra Bauer

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vergaß Thea, in der Gedankensprache zu bleiben. „Was? Ich denke Juli kommt so oder so mit!“, rief sie.

      „Ich hätte sie mitgenommen, doch sie ist nicht hier“, widersprach Wal-Freya.

      „Was?“

      „Geh! Sonst bleibt Tom der einzige, den ich mit mir nehme!“

      Thea stampfte mit den Füßen. „Das ist nicht fair!“

      Wal-Freya kniff ein Auge zu. Schnaubend wandte sich Thea um. Ihre Tritte hallten laut durch den Flur, als sie in ihr Zimmer stapfte. Unter dem Bett zog sie eine Kiste heraus. Darin lagen sorgsam zusammengelegt unter einem Bündel Kleider versteckt Brünne, Kettenhemd, Arm- und Beinschienen und das Schwert, das sie damals von Sigrún bekommen hatte. Sie entschied sich gegen die langen Unterhosen und zog nur die Fellhose an. Allein mit diesem Kleidungsstück begann sie schon, zu schwitzen. Sie legte die Wollhose zur Seite und stieg in die Stiefel. Auch die Felljacke packte sie erst einmal zur Seite, zog stattdessen ein Longsleeve an und schlüpfte dann in das Kettenhemd. Mit jedem Kleidungsstück, das sie anlegte, begann sie sich besser zu fühlen. Sie verspürte Aufregung, Angst, aber auch unsagbare Freude. Seit sie aus Asgard zurückgekehrt war, verging kein Tag, an dem sie nicht an Wal-Freya, Thor und das hinter ihnen liegende Abenteuer gedacht hatte. Lange glaubte sie, sie würde die Asen nie wieder sehen. Mit den Erinnerungen ihrer beiden Leben bestückt und dem Wissen um die Götter fühlte sie sich in ihrem gewöhnlichen Leben oft einsam und deplatziert. Nun war Wal-Freya wieder Teil dieses Lebens und sie war unendlich dankbar dafür.

      „Wie lange brauchst du noch? Dein Tom fragt mir Löcher in den Bauch. Er ist schlimmer als Juli“, hörte Thea Wal-Freya in ihrem Geist.

      „Er ist nicht mein Tom!“, beharrte Thea. „Es dauert nicht mehr lange!“ Umständlich schloss sie den Brustpanzer und legte sich schließlich die Beinschienen an. Erst dann folgten Armschienen, Brünne und zu guter Letzt der Umhang. Auch die Tunika legte sie erst einmal zu den Sachen, die sie mitnehmen würde. Lange betrachtete sie den Köcher. Schließlich öffnete sie ihn, holte Kyndill heraus, steckte das lodernde Zauberschwert statt der alten Waffe in die Scheide und band es sich um die Hüften. Auf diese Weise würde sie es schneller zur Hand haben. Eine Weile überlegte sie, ob sie die alte Waffe ebenfalls mitnehmen sollte, entschied sich aber dagegen. Stattdessen steckte sie das Schwert in den Köcher und schob es zusammen mit der Kiste wieder unters Bett. Kaum auf dem Weg nach unten, blieb sie noch einmal stehen, nahm das Handy in die Hand, tippte eine Nachricht an Juli und legte es zurück auf den Schreibtisch. Mit einem Bündel unter dem Arm und dem Brillenhelm in der Hand kam sie zurück in die Küche.

      Tom wandte sich halbherzig nach ihr um und hatte den Blick schon wieder halb auf Wal-Freya gerichtet, da sprang er von seinem Stuhl und drehte sich in der Bewegung. „Wooow“, stieß er aus. „Du siehst … wahnsinnig gut aus!“

      „Danke.“ Thea lächelte stolz.

      „Ist das echt?“ Er trat auf sie zu und betastete den Saum des Kettenhemds.

      „Klar ist es echt.“ Thea lachte.

      „Es ist von den Walküren. Was glaubst du, was es ist?“, erwiderte Wal-Freya. Sie stand auf und schob die Tasse zur Tischmitte. „Warte nur, bis wir in Wallhall sind. Da werden wir dich auch zu einem richtigen Krieger kleiden.“

      Thea runzelte die Stirn. „Wallhall?“

      „Odin hat sich in Wallhall in Sicherheit gebracht. Wir haben alle darauf bestanden.“

      „Wallhall“, wiederholte Tom fasziniert.

      Wal-Freya lief voran. Auf halben Weg zum Ausgang rief Thea sie zurück.

      „Was ist mit Mutter? Wir können sie doch nicht so sitzen lassen!“

      Wal-Freya blieb stehen und wandte sich überrascht um. „Das ist schon in Ordnung.“

      „Aber … Was wenn sie umkippt? Ich möchte nicht, dass sie sich verletzt.“

      „Wir können sie doch auf die Couch legen“, schlug Tom vor.

      Wal-Freya zuckte mit den Schultern. „Wenn’s sein muss. Aber ich denke nicht, dass sie fällt.“

      Während die Walküre im Flur wartete, lief Tom zurück. Thea stand bereits hinter ihrer Mutter und fasste sie unter den Armen. Rasch kam Tom heran und griff sie seinerseits an den Knien. Gemeinsam rückten sie den Stuhl herum und auf drei hoben sie Frau Helmken an. Verdutzt hielten sie inne. Frau Helmken war steif wie ein Stock. Sie war gerade so erstarrt, wie sie gesessen hatte.

      „Wal-Freya?“, rief Thea ängstlich.

      Die Walküre erschien im Türrahmen.

      „Schau nur!“, forderte sie Thea auf.

      „Das kommt schon mal vor“, sagte Wal-Freya abwehrend. „Legt sie auf die Couch. Wenn sie aufwacht, wird sie wieder ganz normal sein.“

      Begleitet von einem tonnenschweren Gewissen trug Thea ihre Mutter ins Wohnzimmer.

      „Musste das denn wirklich sein, dass du sie wieder verzauberst?“, fragte Thea.

      „Sie hätte dich nicht gehen lassen“, erwiderte Wal-Freya ohne eine Spur von Reue.

      Sie hoben die Mutter aufs Sofa und lehnten sie mit den angewinkelten Beinen gegen die Rückenlehne. So wollte Thea verhindern, dass sie möglicherweise doch fallen könnte. Ihre Mutter in dieser Lage zu sehen, bereitete Thea Magenschmerzen. Morgen würde sie arbeiten müssen. Wer würde sie entschuldigen? Was, wenn ihre Starre doch länger dauerte als angenommen? Ihr Vater war weit weg. Bald würde er sich Sorgen machen.

      „Ich spüre deine Gefühle“, sprach Wal-Freya sie in der Gedankensprache an.

      „Sie ist so ein wundervoller Mensch, die beste Mutter, die man sich wünschen kann und die ich jemals hatte. Ich fühle mich nicht gut dabei, sie so zu hintergehen“, erwiderte Thea.

      Wal-Freya seufzte tief. Sie kniete neben der Couch nieder, malte eine Rune auf Frau Helmkens Stirn und hob dann die Hand darüber. Während sie Worte in einer fremden Sprache murmelte, bildete sich rosa Nebel unter ihren Fingern, der sich schließlich senkte, um Frau Helmkens Augen und Nase waberte und mit ihrem nächsten Atemzug verschwand. Langsam streckten sich ihre Beine, ihr Brustkorb hob und senkte sich unter tiefen Atemzügen.

      Wal-Freya stand auf. „Jetzt schnell. Es wird nicht lange brauchen, bis sie erwacht.“

      Thea küsste ihre Mutter sanft auf die Stirn, verabschiedete sich und eilte Wal-Freya und Tom nach. Mit einem letzten Blick zurück zog sie die Haustür zu.

      3. Kapitel

      Im Dämmerlicht des anbrechenden Tages liefen Thea, Tom und Wal-Freya durch die Straßen, geradewegs auf den Park zu, in dem sich Thea und Wal-Freya das erste Mal begegnet waren. Der Katzenwagen der Walküre stand zwischen einer Ansammlung von hohen Kastanien. Schon von Weitem erkannte Thea Bygul und Trjegul, die beim Näherkommen der Walküre aufgeregt maunzten. Tom folgte Wal-Freya dicht auf dem Fuß, Thea allerdings verharrte für einen Moment. Neben den Katzen machte sie weitere Tiere aus. Sie lagen vor einem zweiten, roten, mit goldenen Knotenmustern verzierten Streitwagen und hoben aufmerksam die Köpfe. Es waren zwei Wölfe. Einer von ihnen besaß Fell schwarz wie die Nacht, nur um seine Nase reihten sich ein paar weiße Härchen. Hell und unheimlich stachen seine silbergrauen Augen hervor. Der andere, weiß wie Schnee und mit dunklen Augen und Nase, gab ein warnendes Knurren von sich. Neben den Tieren, an einem Baum gelehnt, stand eine behelmte Person. Links und rechts der Brillenmaske bändigten zwei braune Zöpfe das Haar, welches auf breite Schultern floss. Ein gestutzter Vollbart umrahmte Lippen und Kinnlinie. Die Pluderhose des Mannes war von den Knien ab bis zu den Stiefeln von einem groben Lederriemen zusammengerafft. Über einer dicken Tunika und unter einer kunstvollen Lederrüstung blitze ein Teil des kurzärmligen


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