Götzendämmerung I. Jörg Werner

Götzendämmerung I - Jörg Werner


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      Sie fragte: „Was macht der Blaue Planet?“

      „Leuchtet blau und macht Ärger.“

      Die Majorin schwieg. Sie dachte daran, dass einige Menschen auf der Erde die Milchstraße das Rückgrat der Nacht nannten. Romantische Narren.

      Michael versuchte währenddessen, mit einem Zahnstocher die Olive in seinem Drink aufzuspießen. Als das misslang, schüttete er das Getränk zügig hinunter und spuckte den Olivenkern anschließend im hohen, präzisen Bogen in die Entlüftung der Espressomaschine. Der Cyborg lächelte gequält und versuchte umgehend, den kleinen Störenfried zu entfernen. Michael grinste amüsiert.

      Soviel zu den Erzengeln, dachte Debora Zack.

      „Nennt man die Erde nicht auch Terra Narra?“, warf sie ein.

      „Nur in dem bekannten Spottlied, mit dem man die Kleinen erschreckt, wenn sie nicht schlafen wollen.“, erwiderte er.

      „Ich erinnere mich: Dum didel dum, auf Terra Narra gehen die Idioten um, dum didl dum, und scheint die Sonne noch so heiß, die Irren bauen wieder Scheiß … Wie es weitergeht, weiß ich nicht mehr.“

      Der Erzengel lächelte gequält und erwiderte: „Genau, Terra Narra, berühmt-berüchtigt für Ignoranz, Borniertheit und Klugscheißerei.“

      „Der Planet steht unter Quarantäne?“

      „Ja, seit auch die letzten Versuche gescheitert sind, die Menschheit zur Vernunft zu bringen, wurde angeordnet, den Planeten abzuschirmen. Kein offizieller Raumverkehr. Keine Einmischung unserer himmlischen Beamten in die inneren Angelegenheiten der Menschheit mehr. Abzug aller Engel höherer Hierarchien, Isolation und Überwachung ihres Sonnensystems.“

      „Eine Sonderverwaltungszone Erde?“

      „Nicht nur der Erde, Major, eine Sonderverwaltungszone für das ganze Sonnensystem. Die Narren stehen an der Schwelle zur intergalaktischen Raumfahrt. Wir wollen doch nicht, dass die kleinen Scheißer eines Tages unser schönes Imperium ruinieren, indem sie ihre kruden Ideen und Vorstellungen überallhin ins Universum exportieren.“

      „Ich verstehe nicht ganz, Exzellenz, Pardon, Michael.“

      Der Erzengel drehte sich ganz zu Majorin Zack um und schaute sie mit honiggelben, kalten Augen an, setzte eine außergewöhnlich dunkle Designer-Sonnenbrille auf, wie sie Diktatoren und Superstars verwenden, und seufzte angewidert.

      „Die Klugscheißer auf der Erde meinen, sie verfügten über einen freien Willen. Dabei müssen sie ständig an irgendetwas und irgendjemanden glauben, vorzugsweise an Gott“, der Erzengel schniefte angewidert, „als ob es den Chef auch nur im Geringsten interessieren würde, ob jemand an ihn glaubt oder nicht. Schlimmer noch, weil jeder mit seinem freien Willen eine andere Interpretation von Gottes Willen beisteuert, massakrieren sie sich fleißig in seinem Namen und nennen das Dschihad, Kreuzzug, Heiliger Krieg, Befreiungskrieg, wahlweise auch Selbstverteidigung, Notwendigkeit oder Präventivmaßnahme. So geht das schon seit den Anfängen ihrer sogenannten Zivilisation. Nebenbei ruinieren sie ihr Klima, durchlöchern ihre Ozonschicht so gründlich, als würden sie im Inneren eines Luftballons mit einem Schrotgewehr herumfuchteln, und erfinden unablässig Finanzprodukte, die sie selber nur insoweit verstehen, dass einige von ihnen kurzfristig sehr reich werden und langfristig alle am Bettelstab enden, weil die Wirtschaft implodiert.“

      „So funktioniert freier Wille?“

      „Gewissermaßen. Der Mensch kann tun, was er will, bis er merkt, dass er nicht wollen kann, was er will.“

      „Er will nicht das, was er will?“

      „Wenn er die Folgen erkennt, nicht, nein.“

      „Klingt kompliziert.“

      „Ist ein verdammtes Paradox, wie die ganze Spezies.“

      „Das Imperium hat versucht, die Situation zu ändern?“

      „Alles! Der Chef hat sogar einen seiner Söhne runtergeschickt, um ein paar Dinge gerade zu rücken, den haben sie umgehend ans Kreuz genagelt, natürlich im Rahmen eines juristischen Verfahrens. Sind verfluchte Organisationsgenies, diese Menschen. Später haben sie den Sohn als einziges Kind vom Chef deklariert, weil sie damals ihren planetaren Steinhaufen noch für den Mittelpunkt des Universums hielten. In den folgenden Jahrhunderten wurde dann darum gestritten, wer die meiste Schuld an dem Totschlag zu tragen hätte. Zu Beginn haben sie ihre Meinungsverschiedenheiten mit Feuer und Schwert ausgetragen, später mit Schusswaffen, Clusterbomben, Flugzeugträgern, Passagierflugzeugen und was sonst noch so zur Hand war.

      Anfangs hat das Ministerium noch seine Engel in Scharen auf die Erde geschickt mit dem Auftrag, dem Irrsinn ein Ende zu setzen. Ich war selbst ein paar Mal dort. Hat nichts gebracht. Hier.“

      Der Erzengel schob der Majorin angewidert eine Postkarte hinüber. Die warf einen Blick darauf. „Hübsch, was ist das?“

      „Mont Saint Michel auf der Erde, eine verdammte Touristenfalle, trampeln sich dort fast zu Tode im Sommer. Und hier auf die Spitze haben sie mich gesetzt, in Gold.“

      Der Erzengel deutete auf eine goldene Figur auf der Spitze von Gebäuden auf einem Hügel im Meer. Die Zufahrt wurde von einer Armada von Bussen blockiert.

      „Das ist alles, was wir Engel erreicht haben, wir stehen überall auf dem Planeten als Statuen rum, in jeder Kirche, an jeder gottverdammten Ecke, in jeder feuchten Nische.“

      Der Erzengel attackierte wütend eine weitere Olive in einem weiteren Drink. Die Majorin fand das bedenklich. Der Erzengel geriet zunehmend in Rage, da waren galaktische Hirnfeger kontraproduktiv. Michael atmete tief durch und fuhr etwas ruhiger fort.

      „Unsere himmlischen Beamten wurden zunehmend in die Auseinandersetzungen und Wahnsysteme der Menschen hineingezogen. Wissen Sie, wie viele Glaubensrichtungen die dort auf ihrem Planeten haben?“

      „Keine Ahnung.“

      „Ich auch nicht, hab schon lange den Überblick verloren, aber es übersteigt jede Vernunft. Allein die Christen sind in unzählige Gruppierungen gespalten, die wieder in Untergruppen zerfallen, die sich ständig spalten wie Pantoffeltierchen. Die Katholiken, um mal bei einer Aufspaltung zu bleiben, zerfallen in römisch-katholisch, griechisch-orthodox, byzantinisch-katholisch, chaldäisch-katholisch, maronitisch, koptisch-orthodox, syrisch-orthodox-katholisch, assyrische Kirche des Ostens, chinesisch-katholisch-patriotische Vereinigung, die unabhängige philippinische Aglipay-Kirche, die alt-katholische Kirchengemeinde der Niederlande, die …“

      „Es reicht, Michael.“

      „Das waren noch lange nicht alle Katholiken, von den anderen mal ganz abgesehen.“

      „Welche anderen?“ Der Majorin schwirrte der Kopf.

      „Protestanten, Juden, Moslems, Zeugen Jehovas, Adventisten, Mormonen, Buddhisten, Hindus. Die Erde ist eine verdammte Brutstätte für religiöse Erlösungssysteme und unsere Engel haben sich den Arsch aufgerissen, um dem Treiben einigermaßen Einhalt zu gebieten, dabei sind viele gefallen.“

      „Die sprichwörtlich gefallenen Engel, meinen Sie die? Ich dachte immer, das wären nur wenige.“

      Der Erzengel winkte müde ab. „Viele sind gefallen, die besten zuerst.“

      „Luzifer?“, warf die Majorin ein.

      Schlagartig verdüsterte sich Michaels Miene. Der Cyborg riss ein Ventil des Espressoautomaten ab. Ein hohes Pfeifen setzte ein. Nebenan hatte ein Wanderprediger im Sakralhemd einen umgestürzten Getränkeautomaten erklommen und tanzte unter wilden Ho-He-Ho-Rufen auf der Stelle, dabei wurde er von einem Haufen Pilger, die ihn mit Rasseln, Schellen, Zimbeln und Handtrommeln anfeuerten, getrieben. Der Erzengel wandte sich angewidert ab.

      „Reden wir von etwas anderem.“

      „Der Erde.“

      „Richtig. Jedenfalls habe ich, als für die Erde zuständiger, verantwortlicher Erzengel, alle niederen Engel von der Erde


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