Paradoxe Gerechtigkeit. Stefanie Hauck
“du gehst sofort auf dein Zimmer und bleibst dort. Eine Woche Stubenarrest. Alles klar?!”
“Ich bin siebzehn, Paps!”, protestierte Sophie, “aber ich wäre auch freiwillig gegangen. Die Luft ist mir zu dick hier.”
Und damit erhob sich Sophie, um mit demonstrativer Lässigkeit die Küche zu verlassen.
“Raus!”, brüllte Thomas hinter ihr her.
Als Sophie die Küche verlassen hatte, sah Martha Thomas genervt an.
“Das musste doch jetzt nicht sein”, murrte sie, “wo sie Recht hat, hat sie Recht. Wenn du mit solch einer Laune mit Jeremiah sprichst, dann schlagt ihr euch eher gegenseitig den Schädel ein. Das wird Peter nun absolut nicht beeindrucken.”
“Ja, entschuldige, ich bin heute wirklich nicht gut drauf”, lenkte Thomas ein, “ich hatte einen anstrengenden Tag. Und dann diese Belehrungen von Sophie. Die kennt sich im Showbusiness besser aus als in der Bibel. Das macht mir Sorgen.”
“Das würde ich nicht sagen, Thomas. Sophie ist Sonntagschulmitarbeiterin, hast du das vergessen? Die anderen Mitarbeiter sprechen in den höchsten Tönen von ihr, und die Kinder sind einfach hingerissen.”
“Und wieso kennt sie dann diese ganzen Schauspieler und Filme?”, grollte Thomas.
“Kam letztens im Fernsehen”, erwiderte Martha trocken, “und jetzt hör endlich auf zu schmollen. Lass uns ‘nen schönen Abend machen, wenn ich dich schon die restliche Woche entbehren muss!”
Martha hatte sich hinter ihn gestellt und kitzelte das kleine bisschen Bauchspeck, den er hatte. Thomas quiekte und musste lachen.
“Okay, du hast gewonnen. Ich ergebe mich. Gnade!”
Sophie hatte sich inzwischen auf ihr Zimmer verzogen. Sie war immer noch wütend auf ihren Vater, und deshalb rief sie jetzt ihre Großtante Laetitia an, um ihr brühwarm von der ganzen Auseinandersetzung zu erzählen. Laetitia amüsierte sich köstlich ob Sophies Ausführungen, gleichzeitig tat ihr das Mädchen aber auch leid.
“Oh Tante Laetitia”, seufzte Sophie, “du bist echt der einzige Lichtblick in dieser Familie von Besserwissern.”
“Na, deine Mutter ist aber doch ganz okay, oder?!”, befand Laetitia.
“Ja, stimmt”, bestätigte Sophie, “aber eins sage ich dir, wenn ich im Herbst volljährig werde, ziehe ich hier aus. Ich hab keinen Bock mehr auf Papa Nervensäge. Dieses ewige Genörgel. Das Leben ist staubtrocken und anstrengend. Lachen verboten. Das geht mir voll auf den Keks!”
“Na ja, vielleicht besteht noch Hoffnung”, versuchte die Tante ihre Großnichte aufzumuntern, “immerhin will er sich mit Jeremiah versöhnen. Und er hat dafür sogar die Einladung auf die Segelyacht des Präsidentenberaters ausgeschlagen.”
“Das funktioniert sowieso nicht, so wie der drauf ist”, seufzte Sophie, “pass auf, nachher kommt er noch auf die Idee, Onkel Jerry wegen irgendeiner Belanglosigkeit verhaften zu lassen, zum Beispiel mit der Begründung, dass Jeremiah in der Nase gepopelt hat, und das sah danach aus, als würde er Kokain schnupfen. Nun suchen wir ihn per Interpol, weil er ein Drogendealer ist.”
Laetitia musste losprusten, als Sophie das sagte.
“Wo nimmst du nur diese witzigen Ideen her?!”, wunderte sie sich vergnügt.
“Galgenhumor”, entgegnete Sophie, aber grinsen musste sie doch, “allerdings kann ich nur hoffen, dass sich Onkel Jerry schnell genug aus dem Staub machen kann, falls Paps zum großen Halali auf ihn bläst.”
“Tja, eigentlich hatte ich Jeremiah schon vorwarnen wollen”, bestätigte Laetitia, “aber ich will mich da auch nicht einmischen. Nachher gibt einer der beiden Männer oder sogar beide mir die Schuld daran, dass das mit der Versöhnung nicht geklappt hat. Und weißt du, bei aller Liebe, aber der plötzliche Sinneswandel deines Vaters bezüglich Jeremiah ist mir nicht koscher.”
“Mir allerdings auch nicht”, seufzte Sophie, “wir sollten mal dafür beten, dass doch was Gutes daraus wird.”
“Hm, genau das wollte ich gerade auch vorschlagen”, bestätigte die Tante, “und, was ich noch sagen wollte, Sophie, wenn du im Herbst wirklich ausziehen willst, dann komm zu mir. Ich habe genügend Platz, und außerdem bin ich dann nicht mehr allein. In gewisser Weise fällt mir das inzwischen schon schwerer als früher, auch wenn ich oft Besuch von ehemaligen Schülern bekomme.”
“Danke, Tantchen, das mache ich”, freute sich Sophie, “und außerdem wäre ich auch nicht so gern bei Cedric eingezogen, zumal wir noch nicht zusammen sind. Ich weiß nicht, ich möchte mich nicht von einem Mann abhängig machen, mit dem ich nicht verheiratet bin.”
“Gute Einstellung”, entgegnete Laetitia, um dann verschmitzt fortzufahren, “aber du erzählst mir doch, wie es mit euch beiden weitergeht? Du weißt doch, alte Frauen sind extrem neugierig.”
“Klar, das ist doch Ehrensache”, bestätigte Sophie grinsend, “und überhaupt, wie könnte ich dich enttäuschen, Tantchen.”
“Dann ist es ja gut. Und Sophie, halte durch. Du hast es so lange geschafft, dieses alte Stinktier von deinem Vater zu ertragen, da wirst du doch nicht auf den letzten Metern aufgeben.”
“Ja, da hast du Recht.”
Puh, dachte Sophie, nachdem sie aufgelegt hatte, das tat jetzt echt gut. Großtante Laetitia trägt ihren Vornamen jedenfalls zu Recht. Sie ist die Fröhlichkeit in Person, ohne albern oder oberflächlich zu sein. Das ist irgendwie toll, wenn man Freude bzw. Fröhlichkeit mit Vornamen heißt. Das klingt jedenfalls nicht so arrogant wie Weisheit, vor allem aber kann das peinlich werden, wenn man in Wirklichkeit strohdoof ist. Und Laetitia hat ein Herz für die Menschen, deshalb war sie auch so eine beliebte Lehrerin. Kein Wunder, dass sie immer noch Besuch von ehemaligen Schülern bekommt. Sie ließ sich noch nie von Äußerlichkeiten täuschen, sondern blickte immer hinter die Maske. Ob jemand etwas taugt oder nicht, das hängt für sie nicht von seinen Leistungen und Erfolgen, sondern von seinen Beweggründen ab. Und sie kann unheimlich gut motivieren und Menschen anspornen, mal etwas zu wagen und Neues auszuprobieren. Ich glaube, wenn sie nicht gewesen wäre, dann hätte Onkel Jerry schon längst Selbstmord begangen. Sie hat ihn immer gegenüber Paps verteidigt, auch wenn sie seinen Lebenswandel nicht durchweg guthieß. Onkel Jerry hat es echt nicht leicht gehabt mit einem Bruder wie Paps. Ständig wurde er an seinem älteren Bruder gemessen. Dass er es irgendwann leid gewesen ist, nie gut genug zu sein und Papa immer als leuchtendes Beispiel vor Augen gehalten zu bekommen, ist nur zu gut verständlich, hatte er sich doch zeitlebens abgemüht, ein Ideal zu erreichen, dass unerreichbar war. Onkel Jerry ist wahrhaftig nicht dumm, sondern sehr intelligent, aber nicht so verbiestert wie Paps. Er will neben all der Schufterei auch noch ein bisschen Lebensqualität haben. Aber Strebsamkeit ist in dieser freudlosen Familie ja die höchste Tugend. Kein Wunder, dass für Onkel Jerry Probleme schon vorprogrammiert waren. Und dann noch Papas elende Arroganz. Er bildet sich doch tatsächlich etwas darauf ein, ein McNamara zu sein. Als wenn er was dafür könnte! Das finde ich ja absolut unpassend und überheblich! Tja, und irgendwann ist das Fass dann übergelaufen. Onkel Jerry hat alles hingeschmissen, weil er dieses ganze großkotzige Gehabe nicht mehr ertragen konnte. Schließlich musste er sich ständig anhören, dass er ein Versager ist, weil er das Jurastudium nicht gepackt hat. Nach dem Militärdienst in Vietnam hat er dann auch kein Bein mehr auf die Erde gekriegt. Schließlich jobbte er mal hier, mal da und lebte in den Tag hinein. Als Paps ihm dann eines Tages vorwarf, er sei ein Schmarotzer, der ihn nur ausnutzen würde, hat es Onkel Jerry gereicht. Das fand ich ja so fies von Paps. Onkel Jerry hatte ihn doch nur gebeten, ihm ein wenig Geld zu leihen, weil er gerade mal wieder arbeitslos war. Aber kaum dass er wieder einen Job hatte, hat er ihm alles zurückgezahlt. Dabei hatte Paps genug Knete, da hätte er ihm den Betrag doch mal schenken können, denn so viel war das nun auch wieder nicht. Aber wenn Paps meinte, Onkel Jerry sei ein Schmarotzer, dann war Onkel Jerry auch ein Schmarotzer, und zwar deshalb, weil Paps es sagte, dass es so sei. Oh, diese ewige Besserwisserei. Paps hat immer Recht. Von Berufs wegen und überhaupt. Selbst wenn er im Unrecht ist, hat er noch Recht.