Paradoxe Gerechtigkeit. Stefanie Hauck

Paradoxe Gerechtigkeit - Stefanie Hauck


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fehlen die Worte”, erwiderte Jerry und konnte es immer noch nicht fassen, “das glaub ich alles erst, wenn ich es sehe. Meinst du, ich kann ihn mir mal ansehen?”

      “Na klar, komm mit”, forderte Angelo ihn auf, “er sitzt dort im Wagen.”

      Der Polizist nahm seinen Freund mit zu seinen Kollegen, die bei den Fahrzeugen warteten. Weil Angelo gesagt hatte, dass er eben noch Jerry informieren wollte, ehe einer der Beamten die Hütte des Bootsverleihers noch nach sachdienlichen Hinweisen absuchen wollte, warteten sie vorerst.

      Jerry fing ganz locker ein Gespräch mit den anderen Polizisten an, erkundigte sich nach Einzelheiten und meinte, vielleicht könne er weiterhelfen, falls sie noch Informationen benötigten. Thomas, der die Unterredung zwar durch das um einen Spalt geöffnete Wagenfenster hören konnte, verstand leider kein Wort, denn die Unterhaltung verlief auf Spanisch, und die Männer sprachen so schnell, dass er noch nicht einmal Wortfetzen verstand.

      Die scheinen sich ja prächtig zu verstehen, dachte Thomas bitter. Bestimmt hat er mich verraten. Die alte Ratte. Hat er nicht gestern sowas gesagt, dass es um meinen Kopf nicht schade wäre? So ein Miststück.

      Schließlich meinte Jerry zu den Polizisten, ob sie ihm den Gefallen tun könnten und Thomas noch einmal aus dem Auto herausholen. Er wolle doch wenigstens einmal im Leben seinen Bruder, der immer so mächtig gewesen war, ohnmächtig und ausgeliefert sehen, und zwar in voller Größe.

      Weil die Fahnder schon von Angelo die halbe Familiengeschichte der McNamaras gehört hatten, erfüllten sie Jerry diesen Wunsch, holten ihren Gefangenen aus dem Streifenwagen heraus und präsentierten ihn dem Bootsverleiher. Jerry blickte Thomas frontal in die Augen, verzog den Mund und schnaufte verächtlich.

      “Muss ein tolles Gefühl sein”, fand Jerry, indem der Thomas musterte, “wenn man jahrelang erfolgreich ein Doppelleben geführt hat, und nun kriegen sie einen. Schade, dass ich keinen Fotoapparat in greifbarer Nähe habe, weil ich liebend gern ein Bild von dir machen würde. Dr. Thomas McNamara mit auf dem Rücken gefesselten Händen, weil die venezolanische Drogenfahndung ihn geschnappt hat. Von wegen Versöhnung. Das war mir eh klar, dass da was faul ist. Es ist schon eine Gemeinheit, dass du überhaupt sowas gemacht hast, aber es ist der Gipfel, dass du das als Versöhnungsaktion getarnt hast. Womöglich hättest du mich auch mit reingezogen. Sowas nenn ich Bruderliebe.”

      Und damit spuckte er Thomas frontal ins Gesicht.

      Es war schwer zu sagen, wer erstaunter über Jerrys Verhalten war, Thomas oder die Fahnder. Auch wenn Thomas wusste, dass Jerry nicht gerade gut auf ihn zu sprechen war, aber dass der Bruder so von Schadenfreude und Hass erfüllt sein konnte, schockte nicht nur ihn, sondern auch die Polizisten. Für einen Moment waren diese wie gelähmt. Und das war genau einen Moment zu lang. Denn Jerry riss dem Einsatzleiter blitzschnell den Revolver aus dem Halfter am Gürtel, verdrehte ihm den Arm und hielt ihn von hinten umklammert, wobei er ihm den Lauf der Waffe an den Hals drückte und den Hahn spannte. Dann zog er ihn ein Stück zurück.

      “Okay, amigos, alles, was Recht ist, aber ihr werdet wohl ohne euren Gefangenen wieder abziehen müssen.”

      Und zu Angelo gewandt fügte er hinzu: “Tut mir leid, Angelo, aber wir werden uns die Belohnung nicht teilen können. Mein Bruder ist zwar ein Arschloch, aber er ist mit Sicherheit nicht der Freund eines Drogenbarons. Und jetzt werdet ihr meinem Bruder die Handschellen abnehmen. Sofort! Und keine faulen Tricks, sonst ist euer netter Kollege hier ein toter Mann! Na, macht schon!”

      “Tut, was er sagt”, meinte der Fahnder.

      Einer der Polizisten nahm dem Richter die Handschellen ab. Thomas sah seinen Bruder währenddessen völlig verdattert an, kam schnell­stens zu ihm herüber und rieb sich die schmerzenden Handgelenke.

      “Wieso?”, hauchte er.

      “Das sagte ich doch bereits... weil du auf keinen Fall ein Freund von Ramírez bist. Aber wir haben keine Zeit für Sentimentalitäten!”, fuhr Jerry ihn an, “hör mir jetzt gut zu, sonst sitzen wir gleich beide da auf dem Rücksitz mit gefesselten Händen!”

      Diese Drohung wirkte. Thomas war ganz Ohr. Aber zuerst wandte sich Jerry an die Polizisten.

      “Okay, ihr werdet jetzt ganz langsam einer nach dem anderen eure Waffen vor euch in den Sand legen. Angelo fängt an!”

      Nachdem das geschehen war, meinte Jerry: “So, nun tretet ihr allesamt zehn Schritte zurück, schön langsam. Eine hektische Bewegung und euer netter Kollege hier beißt ins Gras!”

      Jerry sah mit Genugtuung, wie sich die Beamten langsam rückwärts bewegten.

      “So, jetzt sammle die Revolver auf, Tom!”

      Thomas tat, wie ihm geheißen. Inzwischen war Jerry mit seiner Geisel immer weiter in Richtung der Boote zurückgewichen. Er befahl den Polizisten, Thomas die Schüssel für die Autos und die Handschellen zu geben. Anschließend sollten sie einzeln zu den Booten herüberkommen, damit Thomas sie fesseln konnte.

      Nachdem Thomas damit fertig war, zog er auf Jerrys Geheiß den Gefangenen eine lange Kette zwischen den gefesselten Händen durch und machte sie an einem der Boote mit einem Vorhängeschloss fest. Zum Glück hatte Jerry den Schlüssel für das Schloss nämlich an seinem Schlüsselbund.

      “Okay, und jetzt hauen wir ab”, befand Jerry, “nimm die Knarre und zerschiess die Reifen und die Funkanlagen des Streifenwagens. Wir werden den Jeep zur Flucht benutzen, weil er ein ziviles Fahrzeug ist und somit wenig Aufsehen erregt. Ich werde alldieweil ein paar nützliche Utensilien zusammensuchen.”

      Als Jerry zurückkam, hatte Thomas ganze Arbeit geleistet und saß schon auf dem Beifahrersitz des Jeeps, denn er war der Meinung, dass es vorteilhafter wäre, wenn Jerry führe, weil der sich bestimmt besser auskannte.

      “Gute Arbeit”, meinte Jerry anerkennend, warf den Seesack und seinen Rucksack auf die Ablagefläche und startete den Wagen. Dann brauste er mit quietschenden Reifen los. Alles, was von den beiden übrig blieb, war eine Staubwolke, die sich nur langsam verzog.

       Jerry fuhr nach Westen. Thomas war immer noch so verdattert und benommen von dem, was da gerade geschehen war, dass er einfach nur schweigend neben seinem Bruder saß. Als er aber merkte, dass Jerry nach Westen fuhr, schnauzte er ihn an: “Bist du wahnsinnig? Warum fährst du nach Westen? Willst du unseren Verfolgern in die Arme laufen?”

      Jerry sah ihn nicht an, antwortete auch nicht und fuhr mit unvermindertem Tempo weiter.

      “Hörst du nicht, was ich sage?!”, brüllte Thomas ihn an.

      “Jetzt pass mal auf, Dr. Neunmalklug! San Juan de las Galdonas liegt auf einer Halbinsel. Wenn ich nach Osten fahren würde, kämen wir irgendwann ans Meer. Und da würde die Küstenwache auf uns warten. Das heißt, wenn wir überhaupt so weit kämen. Wahrscheinlich würden sie uns schon vorher schnappen.”

      “Aber du hast die Polizisten doch im wahrsten Sinne des Wortes an die Kette gelegt?!”, wunderte sich Thomas.

      “Richtig”, meinte Jerry gereizt, “aber wenn Angelo nicht in spätestens einer Stunde in seinem kleinen Büro auftaucht, werden die Leute im Ort misstrauisch. Zumal Angelo ihnen gewiss erzählt haben wird, dass er mit ein paar Leuten von der Drogenfahndung aus der Hauptstadt den fiesen Bruder von Solimár verhaften geht. Das ist doch mal was, das ist der Kracher. Davon reden die Leute noch eine Woche lang. Angelo wird diese Geschichte jeden Abend bei José erzählen müssen, und alle werden an seinen Lippen hängen und bei jedem Mal, wo er die Geschichte berichtet, wird er sie ein bisschen mehr ausschmücken. Na ja, wie dem auch sei, wir müssen versuchen, möglichst weit nach Süden zu kommen. Und da ich nicht quer durch den Turuepano-Nationalpark fahren kann, muss ich ihn westlich umgehen. Außerdem ist das gar nicht so dumm, nach Westen zu fahren, damit rechnen unsere Verfolger nämlich nicht. Die werden wahrscheinlich erstmal die Küstenorte im Osten verständigen, weil wir vorhatten, nach Trinidad überzusetzen, denn das hab ich gestern Abend in der Kneipe erzählt.”

      “Aber meinst du nicht, wir könnten es doch nach Trinidad schaffen?”

      “Es


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