Paradoxe Gerechtigkeit. Stefanie Hauck
fertigmachen”, lenkte Jerry ein.
“Das hört sich schon viel netter an”, erwiderte Thomas mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme, “und du hast dich doch tatsächlich daran erinnert, wie ich heiße, nicht wahr?!”
“Hey, nun sei doch nicht immer so kleinlich...”
“Nun denn, da du dich erfreulicher Weise daran erinnert hast, wie ich heiße, möchte ich dich jetzt höflichst bitten, deinen Revolver, den du ja sicherlich noch in der Hand hältst, weit weg zu werfen. Und dann legst du bitte die Hände hinter den Kopf. Tust du das für mich, ja? Nun, das ist aber lieb!”
Jerry tat, wie ihm geheißen.
“Was hast du vor?!”, fragte er angstvoll.
“Ich werde dich als Führer nehmen”, erklärte Thomas, “und weil du das offenbar nicht freiwillig machen möchtest, werde ich dich halt fesseln. Ein Paar Handschellen habe ich ja noch. Das ist bestimmt eine ganz besondere Erfahrung, mit gefesselten Händen durch den Dschungel zu laufen. Ist doch mal was anderes, nicht wahr?! Da wärst du besser kooperativ gewesen.”
Jerry hatte nun seinerseits den Eindruck, dass Thomas mit dem, was er sagte, überhaupt keine Scherze machte.
“Hör zu, Thomas”, setzte Jerry nochmal an, “wir sollten uns besser zusammentun. Wenn wir uns streiten, nützen wir nur unseren Verfolgern.”
“Ich glaube nicht, dass du dich in der Lage befindest, in der du Vorschläge machen kannst. Ich denke, ich werde das wohl ganz alleine mit mir selbst abmachen.”
“Thomas, bitte, ich hab’s nicht so gemeint...”
“Ach nein? Das sah aber eben gar nicht danach aus, als du mich verraten wolltest und mir die Reifen zerschossen hast!”
“Ich war sauer...”
“Ach, sauer warst du. Das liegt vielleicht an dem vielen Kaffee, den du zu trinken pflegst. Erzeugt eine Übersäuerung des Magens. Sehr ungesund. Du siehst ja, wohin das führen kann. Du solltest besser auf Tee umsteigen.”
“Thomas, komm schon, werd jetzt nicht ironisch.”
“Ich bin nicht ironisch, das ist wissenschaftlich erwiesen, dass Kaffee ungesund für den Säurehaushalt des Magens ist.”
“Thomas, du weißt ganz genau, wie ich das meine...”
“Weißt du, Jeremiah, ich glaube, du hast in deinem ganzen Leben noch nie so oft Thomas zu mir gesagt wie in den letzten fünf Minuten. Das ist wirklich ein ganz besonderer Genuss für mich. Und jetzt leg dich bitte mit dem Gesicht zum Boden der Länge nach hin, damit ich dich fesseln kann, ja?!”
“Thomas, ich...”
“Na, wird’s bald!”
“Hör mal, ich...”
“Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, Jeremiah, oder soll ich dir Beine machen?”, drohte Thomas und spannte den Hahn.
“Schon gut, schon gut, ich mach ja schon...”
Jerry ging auf die Knie und legte sich auf den Bauch, Gesicht zum Boden, so wie der Bruder es ihm befohlen hatte. Für einen Moment bezweifelte er, dass Thomas ihn wirklich fesseln würde, aber als er das Klirren der Handschellen hörte und die näherkommenden Schritte bemerkte, wurde ihm klar, dass Thomas Ernst machen würde.
Oh nein, dachte Jerry bitter, das ist die absolute Krönung. Ich befreie ihn, und zum Dank dafür nimmt er mich gefangen. Was bin ich doch für ein Vollidiot!
Thomas hatte ein Knie auf Jerrys Rücken gestützt und meinte: “So, dann gib mir mal das linke Patschehändchen...”
Jerry gehorchte.
“... und nun das rechte...”
Jerry hörte voller Angst das schnarrende Geräusch, das die Handschellen verursachten, als Thomas sie einrasten ließ. Dann packte der ihn an den Händen und zog ihn hoch. Nie zuvor im Leben hatte sich Jerry so vor seinem Bruder gefürchtet.
Der ist zu allem fähig, dachte er. Und sowas ist im Kirchenvorstand. Unglaublich. So ein Wolf im Schafspelz. Aber das sind die schlimmsten. Je frömmer sie daher kommen, desto fieser sind sie in Wirklichkeit. Lieber ein ehrlicher Heide sein als ein verlogener Christ.
Thomas hatte inzwischen den Revolver aufgesammelt, den Jerry weggeworfen hatte und war zum Jeep gegangen. Er holte den Seesack, den Rucksack und die Einkäufe aus dem Wagen und meinte dann: “Okay, sollen wir noch irgendwas mitnehmen? Denk daran, es ist auch in deinem Interesse!”
“Du solltest mal nachsehen, ob es brauchbare Utensilien im Handschuhfach oder in den Seitenfächern gibt. Am besten wäre es allerdings, du würdest mich mal nachsehen lassen.”
Jerry sah den Bruder unsicher an. Thomas zog die Augenbrauen hoch und meinte: “Damit ich dir die Fesseln abnehme und du mir anschließend einen über die Rübe ziehst?! Nein danke. Aber du kannst mal hier herumkommen und es dir ansehen. Herausholen kann ich es dann selbst.”
Jerry folgte der Aufforderung. Es befanden sich noch Karten und andere Kleinigkeiten im Wagen. Als Thomas sie herausholte, schaltete er durch Zufall das Radio an und vernahm ein Geräusch, das an den Anfang einer Nachrichtensendung erinnerte. Instinktiv sah Thomas auf seine Armbanduhr und bemerkte, dass es gerade 16.00 Uhr war. Er blickte Jerry fragend an, und der meinte: “Lass das Radio mal an.”
Einige Minuten verharrten sie schweigend, aber dann kam eine Nachricht, in der Thomas’ Name genannt wurde. Als die Sendung vorbei war, meinte Jerry: “Du kannst jetzt ausmachen. Schade, dass wir das Radio nicht mitnehmen können.”
“Was haben sie durchgegeben?”, wollte Thomas wissen, “sie nannten meinen Namen.”
“Hm”, erwiderte Jerry, “sie sagten, dass seit gestern ein amerikanischer Richter auf der Flucht sei, der mit der Drogenmafia unter einer Decke stecke. Er sei der hiesigen Polizei zweimal entwischt, als diese ihn festnehmen wollte. Der Bursche wäre schon seit Jahren im Geschäft, und sie hätten überhaupt nicht damit gerechnet, dass er das fehlende Glied in der Kette zu den Drogenbossen aus Kolumbien gewesen wäre. Ferner hätte er einen Verbündeten vor Ort, der ihm geholfen hätte zu fliehen. Jetzt suchen sie die beiden landesweit, wobei sie davon ausgehen, dass die Kerle nach Süden geflohen sind, weil sie nirgendwo an der Küste des Golfes von Paría gesichtet wurden. Schwer zu sagen, wie weit sie schon im Süden sind. Aber man hat eine Großfahndung eingeleitet.”
Jerry sah Thomas fragend an.
“Komm, lass uns abhauen”, meinte er schließlich, “das war ja ganz gut, dass wir die Sendung gehört haben, so wissen wir wenigstens, was unsere Verfolger wissen. Natürlich wissen die noch mehr, als in den Nachrichten durchgegeben wird, aber wenn sie so detailliert berichten, kann man davon ausgehen, dass sie dringend Hilfe brauchen, weil der Radius, in dem sie uns suchen müssen, einfach zu groß ist. Sie haben keinen Anhaltspunkt, in welcher Gegend wir uns aufhalten und hoffen auf Hinweise aus der Bevölkerung.”
Weil Thomas nicht reagierte, meinte Jerry: “Was ist? Bist du jetzt geschockt?”
“Nein”, erwiderte Thomas völlig geistesabwesend.
“Was ist dann? Hör mal, ich möchte lieber mit gefesselten Händen quer durch den Dschungel laufen müssen, als von den Spürhunden aufgegriffen zu werden und im Knast zu landen bzw. von der Drogenmafia umgebracht zu werden.”
“Ja... ja, schon gut, wir gehen ja gleich”, meinte Thomas immer noch nachdenklich, “Jeremiah, wirst du mich auch führen, wenn ich dir die Handschellen abnehme?”
“Du kannst Fragen stellen! Na klar!”
“So klar war mir das nicht. Schließlich wolltest du mich an meine Verfolger ausliefern und hast mir die Reifen zerschossen!”, ereiferte sich Thomas.
“Ich war wütend!”, meinte Jerry aufgebracht, “immerhin hattest du mir charmanterweise gesteckt, dass ich dich nicht hätte retten müssen.”
“Schon