Paradoxe Gerechtigkeit. Stefanie Hauck
trank selbst auch.
“Hoffentlich kriegst du keinen Durchfall”, meinte er besorgt, “das schwächt.”
“Glaub ich nicht, ich bin nicht so empfindlich”, gab Thomas zurück.
Am Nachmittag merkte Thomas allerdings schon, wie es in seinem Leib rumorte.
Vielleicht hat Jeremiah doch Recht gehabt, dachte Thomas besorgt.
Kurze Zeit später schlug er sich seitlich ins Gebüsch.
Jerry grinste.
Na, Bruder Besserwisser, hat’s dich erwischt?! dachte er mit einer gewissen Häme.
Einige Zeit später erschien Thomas wieder und meinte: “Hattest du auch Kohletabletten gekauft?”
“Hm”, meinte Jerry und reichte ihm die Schachtel. Thomas nahm sich zwei Tabletten heraus und wollte gerade sagen ‘Hast du etwas Wasser für mich?’, als er sich besann, dass das Wasser wohl so eine anregende Wirkung auf seinen Verdauungstrakt gehabt hatte. Aber Jerry reichte ihm schon eine Flasche mit einer wasserhellen Flüssigkeit.
“Hier, spül’ sie damit runter!”
“Was ist das?”, fragte Thomas misstrauisch.
“Schnaps”, antwortete Jerry.
“Tabletten und Alkohol!? Bist du verrückt?!”, ranzte Thomas ihn an.
“Das ist in Form gepresste Kohle, also zier dich nicht so!”
“Und der Schnaps desinfiziert, wie?!”, meinte Thomas argwöhnisch.
“Genau!”, kommentierte Jerry grinsend die Szene.
“Gib schon her!”, entgegnete Thomas muffelig und riss ihm die Flasche fast aus der Hand.
“Na also, klappt doch”, befand Jerry hochzufrieden.
“Du findest das wohl komisch, wie?”, murrte Thomas.
“Nein, ehrlich gesagt, nicht so sehr. Nur dein Geterze ist amüsant!”, meinte Jerry und zog die Augenbrauen hoch.
“Werd jetzt nicht frech, Jeremiah!”, brummte Thomas.
“Oh, dank mir nicht!”, gab Jerry verärgert zurück.
“Schon gut”, lenkte Thomas ein, “okay, dann lass uns mal weitergehen.”
Als sie einen Lagerplatz gefunden hatten und die Dunkelheit hereinbrach, waren beide so fertig, dass sie fast auf der Stelle einschliefen. Jerry wollte seinen Bruder noch daran erinnern, ihm zu erzählen, warum er die Verfolger am Hals hatte, aber er war zu müde, und Thomas ging es genauso. In Minutenschnelle hatten sie gegessen und schliefen vor Erschöpfung ein.
Teil 1 – Kapitel 9
Am Abend des 13. Juli befand sich Philip in großer Spannung. Immer wieder hörte er Nachrichten, um zu erfahren, ob es irgendwelche Meldungen gab, in denen sein Kollege erwähnt wurde. Fehlanzeige. Philip war sehr froh. Um ganz sicher zu gehen, dass alles in Ordnung war, rief er Dr. Martha McNamara an und erkundigte sich, ob Thomas schon bei Jeremiah gewesen wäre. Martha erzählte Philip von dem Telefonat am frühen Nachmittag. Beide freuten sich, dass Thomas sich anscheinend wirklich aufgerafft hatte, zu seinem Bruder zu fahren und eine Klärung herbeizuführen.
Am nächsten Morgen brachte er den Sekretärinnen Kaffee mit. Schließlich wollte er doch nicht als Schmarotzer verschrien sein. Er plauderte mit den beiden, bekam natürlich auch eine Tasse und begab sich wieder an seine Arbeit. Der Tag verlief anschließend sehr hektisch, weil er viele Außentermine hatte und deshalb viel unterwegs war. Deshalb hörte er auch kein Radio, das hätte ihn dann nur zusätzlich genervt.
Hauptsache, Thomas kriegt das mit der Versöhnung hin, dachte Philip zwischenzeitlich. Dann ist er hoffentlich etwas genießbarer, mal abgesehen davon, dass er vielleicht wirklich mehr Chancen für eine Berufung hat. Aber noch viel wichtiger ist, dass er sich da unten nicht langmacht bzw. langemacht wird.
Philip liebte seinen Beruf, aber manchmal war auch ihm Thomas’ Gehabe einfach zu viel. Für einen Moment dachte er, dass er gar nicht traurig wäre, wenn Thomas nicht aus Venezuela wiederkäme, das würde seine Lebenserwartung mit Sicherheit um mindestens zehn Jahre erhöhen. Aber im nächsten Augenblick tat ihm dieser abscheuliche Gedanke schon wieder leid.
Hoffentlich wird Thomas bald befördert, dachte er. Dann sind wir ihn los. Das ist doch die wesentlich schmerzlosere Variante für uns alle. Und das “Kleinkind” hat seinen Willen mal wieder bekommen. Aber glücklicher wird es deshalb nicht sein. Thomas, du bist ein armer Wicht! Ich frage mich ernsthaft, ob es irgendwas gibt, was dir Glück und Frieden verschafft. Vorstellen kann ich es mir jedenfalls nicht. Na, was soll’s, es ist ja auch nicht mein Problem.
Als er abends nach Hause kam, sich auf einen ruhigen Feierabend freuend, blieb ihm fast das Herz stehen. Als er in die Straße einbog, in der er wohnte, sah er vor seinem Haus eine riesige Menschentraube.
Ach du Schande, dachte er entsetzt, was ist denn da passiert?!
Als die Leute, die vor Philips Haus standen, ihn kommen sahen, stürmten sie in seine Richtung wie ein Schwarm Hornissen. Philips Augen weiteten sich in wildem Entsetzen. Das waren ja Reporter. Was wollten die hier? Philip fuhr im Schritttempo durch die wild durcheinander laufenden Menschen. Polizisten waren anscheinend auch darunter. Was um alles in der Welt war hier los?
Kaum dass er auf der Auffahrt geparkt hatte und ausgestiegen war, stürzte sich die Meute auf ihn.
“Dr. Banks, was können Sie zu dem Fall Dr. McNamara sagen?”
“Seit wann ist Dr. McNamara Ihrer Meinung nach schon ins Drogengeschäft verwickelt?”
“Wieso konnte er so lange unerkannt ein Doppelleben führen?”
“Was wussten Sie darüber, Dr. Banks?”
“Sie sind sein engster Vertrauter. Was wussten Sie?!”
“Warum konnte die Polizei Dr. McNamara nicht schon früher entlarven?!”
Um Philip drehte sich alles. Er wusste überhaupt nicht, wo die Glocken hingen. Was war das gerade gewesen: ‘Seit wann ist Dr. McNamara schon ins Drogengeschäft verwickelt?’ Da musste er sich doch wohl verhört haben. Thomas bekämpfte die Drogenbosse, er würde niemals gemeinsame Sache mit ihnen machen!
Irgendwie gelang es Philip, sich ins Haus durchzukämpfen. Dort erwarteten ihn schon seine völlig aufgelöste Ehefrau neben Agenten des CIA und des FBI sowie ein paar Streifenpolizisten und sogar der Bürgermeister von New York.
“Oh Schatz”, stieß sie verzweifelt aus, “in was bist du da hineingeraten?!”
“Bitte”, meinte Philip, “könnten Sie mir sagen, was das alles soll?”
“Nun, Dr. Banks, vielleicht hätten Sie heute über Tag mal Radio hören sollen!”, meinte einer der Agenten.
“Ich hatte heute noch etwas anderes zu tun, als die vielen unerfreulichen Nachrichten aus aller Welt zu hören!”, gab Philip ein ziemlich eingeschnappt zurück.
“Tja, nur manchmal kann das sehr erhellend sein, wenn man informiert ist.”
“Also”, wandte sich der Bürgermeister an Philip, “wir stehen vor einem der größten Justizskandale der Nachkriegszeit, Philip. Unser allseits geschätzter Jurist, Dr. Thomas McNamara, ist gestern von der venezolanischen Drogenfahndung auf frischer Tat ertappt worden, wie er Kontakt zu seinem langjährigen Freund Miguel Ramírez aufgenommen hat. Man fand bei ihm einen Brief, in dem Ramírez ihn in seine Villa am Strand einlud. Leider ist McNamara den Fahndern zweimal entwischt. Jetzt läuft eine landesweite Großfahndung nach ihm und seinem Komplizen. Kam heute Morgen als erstes in den Nachrichten durch und wurde stündlich als die Schlagzeile wiederholt. Er hat jahrelang Kontakt zu den Drogenkartellen gehabt, und keiner von uns wusste davon. Oder wusste vielleicht doch jemand etwas, zum Beispiel Sie, Philip?”