Paradoxe Gerechtigkeit. Stefanie Hauck
los!”, meinte Jerry, während er sich auf den Beifahrersitz schwang.
“Willst du nicht fahren?”, fragte Thomas zurück.
“Nein, wozu!”
“Na gut!”
Thomas startete den Jeep und fuhr los. Jerry bedeutete ihm, Richtung Süden weiterzufahren. Nach ein paar Kilometern wies er seinen Bruder an, die Straße zu verlassen und in einen Feldweg einzubiegen. Der Weg führte noch ein bisschen durch Felder und Kaffeeplantagen hindurch, um schließlich am Rande des Dschungels zu enden.
“Endstation”, meinte Jerry genervt, “ab jetzt gehen wir zu Fuß weiter.”
“Du meinst das mit der Flucht durch den Dschungel also Ernst?!”, horchte Thomas nach.
“Ganz genau!”, bestätigte Jerry mürrisch, “werden wir jetzt unsere Päckchen packen und unsere Ranzen schultern, und dann marschieren wir los!”
“Ich halte das für keine gute Idee, durch den Dschungel zu marschieren!”
“Aber dein Schlaumeierplan mit dem Übersetzen nach Trinidad hat nicht funktioniert! Deshalb machen wir es jetzt so, wie ich es sage, denn bisher ist die Rechnung aufgegangen, nicht wahr?”
“Du hast Glück gehabt!”, beschwerte sich Thomas, “und außerdem war es deine Schuld, dass mein Plan, nach Trinidad überzusetzen, nicht funktioniert hat. Wenn du nämlich nicht so ein Plappermaul wärst und deinen Fischerfreunden abends in der Bar deine und meine halbe Lebensgeschichte erzählt hättest, dann würde ich jetzt schon in einer Maschine sitzen, die Richtung New York unterwegs wäre. Und du wärst um mindestens fünfhundert Dollar reicher und könntest die ganze Woche mit deiner Karibikschlampe Liebe machen. Also tu jetzt nicht so, als wärst du James Bond, klar?!”
“Wie wäre es denn gewesen, mal ganz beiläufig bemerkt, wenn du mich nur ein klitzekleines bisschen eingeweiht hättest?!”, ereiferte sich Jerry, “woher soll ich ahnen, dass du die venezolanische Drogenfahndung auf den Fersen hast, hä?! Ich weiß nicht so recht, was du dir dabei gedacht hast, ausgerechnet bei mir in diesem Moment aufzukreuzen. Ich meine, du hast dich in all den Jahren, seit ich weggegangen bin, nicht ein einziges Mal gemeldet und...”
“Was dir doch sicher sehr recht war!”
“Allerdings, ich habe dich nicht einen Tag lang vermisst!”
“Eben, also hör auf, so zu tun, als ob ich der Spielverderber wäre!”
“Nur, dass das hier kein Spiel ist. Hier geht es nämlich um deinen bzw. jetzt auch zusätzlich noch um meinen Kopf!”, fauchte Jerry.
“Du hättest mich nicht da raushauen müssen!”
“Man tut sich auch bedanken oder wie?!”, giftete sich Jerry, “aber nein, dank mir nicht, ich brauche das nicht! Ich weiß nämlich allein, dass ich ein edler Mensch bin. Warum war ich nur so doof und habe dich befreit?! Du hast schon Recht. Wo ich schon so ein Plappermaul bin, hätte ich mir doch wenigstens die Hälfte von der Belohnung geben lassen sollen, als Angelo mir das netter Weise von sich aus angeboten hat. Aber Jeremiah McNamara betätigt sich ja caritativ für seinen elenden Bruder, Dr. Superschlau. Die Welt würde in Zukunft um Einiges besser werden, wenn du aus dem Verkehr gezogen wärst. Von daher ist es schon okay, dass sie mich mit verknacken wollen, denn ich habe soeben einen großen Dienst an der Menschheit verhindert. Toll, ganz toll!”
Jerry war ausgestiegen und gestikulierte wild mit den Armen, um schließlich mit den Händen gegen die Ladefläche zu schlagen.
“Ich werde dir jetzt mal was sagen, Mr. Tom: Mach deinen Scheiß alleine! Es ist mal wieder wie früher. Immer, wenn ich mit dir zusammen bin, gerate ich in Schwierigkeiten. Zehn Jahre lang hatte ich keine, weil du ja nicht da warst, aber kaum dass du bei mir aufgetaucht bist, bekomme ich welche! Es reicht mir inzwischen, ich hab die Schnauze voll. Du hast echt die Gabe, mein Leben zu zerstören, egal wo es stattfindet. Das ist ‘ne echte Leistung. Wenn es sowas wie den Anti-Friedensnobelpreis gäbe, du hättest ihn verdient!”
Jerry hatte sich einmal um seine eigene Achse gedreht und ließ sich gegen die Ladeklappe fallen, warf den Kopf in den Nacken und stöhnte. Dann fuhr er herum und meinte: “Runter da!”
Thomas starrte ihn verständnislos an.
“Na los, runter da vom Fahrersitz! Bist du taub?!”
Jerry kam wie eine Furie auf ihn zugeschossen. Thomas zuckte ein wenig zurück und meinte entgeistert: “Was hast du vor, Jeremiah?”
“Ich werde jetzt nach Maturín fahren und mich stellen. Und ich werde ihnen sagen, dass ich einen kleinen Anfall von Geistesgestörtheit hatte infolge einer familiären Sentimentalität, als ich dich befreite. Und dass es mir leid tut, dass der Anfall so lange gedauert hat. Und natürlich werde ich ihnen sagen, wo sie dich finden. Das wird dann nicht lange dauern, bis sie dich gefunden haben. Die andere Variante wäre allerdings, dass ich dir jetzt eins auf die Fresse haue, dich fessele und direkt mitnehme. Das wäre wesentlich praktischer und würde sicher mehr Eindruck machen, abgesehen davon, dass es meine Glaubwürdigkeit erhöhen würde. Möglicherweise käme ich sogar doch noch in den Genuss der Belohnung und könnte wirklich für den Rest der Woche mit Catarina Liebe machen. Du hast mich nämlich, nur so nebenbei erwähnt, um ein wirklich einmaliges sexuelles Erlebnis gebracht.”
“Sag mal, schämst du dich eigentlich nicht?!”
“Wofür?!”
“Du gehst mit jeder Schlampe ins Bett! Bei dir hat die ganze christliche Erziehung überhaupt nichts genützt. Du benimmst dich schlimmer als ein Heide!”, rügte ihn sein Bruder.
“Wenn die Güte des Christseins an der Anzahl bzw. der Qualität der Sexualpartner gemessen wird, dann haben aber eine Menge Leute schlechte Karten, und nicht nur Heiden. Ich möchte nicht wissen, wie viele sogenannte Ehrenmänner ihre Frauen betrügen oder regelmäßig ‘ne Nutte vögeln. Also spiel hier nicht den Moralapostel”, rechtfertigte sich Jerry, “und außerdem bist du doch bloß neidisch, weil du so eine Frau nie rumkriegen würdest. Wir hatten eine heiße Nacht, das kann ich dir flüstern.”
Jerry verzog den Mund zu einem sehr süffisanten Grinsen.
Thomas kochte.
“Es war ja unüberhörbar!”, schnaubte er.
“Ach ja?”, tat Jerry beiläufig, “konnte man uns hören?”
“Hören ist gar kein Ausdruck, ich dachte, du brichst dieses Rattenloch ab, in dem du da haust!”, murrte Thomas.
“Och, dieses Rattenloch, wie du es nennst, ist sehr gemütlich und sehr stabil. Hat mir schon bei vielen Frauen gute Dienste geleistet. Weißt du, gerade die Ehefrauen von solchen Spießern, wie du einer bist, fahren auf sowas total ab. Da kommt endlich mal ein bisschen das Gefühl von Abenteuer und Romantik auf!”
Jerry bemerkte mit Genugtuung, wie sein Bruder sich giftete. Aber dann besann er sich und meinte: “Okay, Bruderherz, die Show ist vorbei. Beweg’ deinen Hintern vom Fahrersitz runter, ich hab nämlich keine Lust, mich so lange mit dir zu streiten, bis sie uns gefunden haben. Das ist es mir nicht wert.”
Thomas hatte den Eindruck, dass sein Bruder das wirklich ernst meinte. Deshalb tat er so, als würde er tatsächlich aussteigen, um im letzten Moment den Jeep zu starten, den Gang reinzuwerfen und zurückzusetzen.
Jerry, der schon mit sowas gerechnet hatte, sprang vor dem zurückfahrenden Wagen auf Seite, riss den Revolver, den er dem Drogenfahnder abgenommen hatte, aus dem Gürtel und zerschoss Thomas die Reifen. Der Jeep kam ins Trudeln und kippte schließlich seitlich weg. Jerry sah auf den qualmenden Kühler und grinste.
“Hola, Mr. Tom, wie geht’s denn so?!”, meinte er und näherte sich vorsichtig dem umgekippten Wagen. Da er nur gegen das Bodenblech sehen konnte, wusste er nicht, ob der Bruder sich verletzt hatte. Jerry spähte über den Rand der Fahrerseite... und blickte in einen Revolverlauf, der auf seine Stirn gerichtet war. Er war einigermaßen verblüfft, und das registrierte