Paradoxe Gerechtigkeit. Stefanie Hauck
halt nichts machen. Eben auf der Wanderung war der Gestank nicht so penetrant gewesen. Oder er hatte sich das nur eingebildet, weil er jetzt mehr darauf achtete?! Am schlimmsten fand er die Geräusche. Wer wusste schon, was für Viechzeug hier unterwegs war. Er hatte daheim mal einen Ausschnitt einer Dokumentation im Fernsehen gesehen, als er nach Hause kam und Sophie suchte. Als er dann Sophie vor dem Fernseher fand, sah sie sich gerade eine Sendung über den südamerikanischen Regenwald an und diese ganzen Probleme, die mit dem Raubbau daran zu tun hatten. Es wurden u. a. nachtaktive Tiere gezeigt. Raubtiere waren auch dabei gewesen. Und alle möglichen komischen Tiere, die er noch nie zuvor gesehen hatte und die eklig aussahen. Und giftige Tiere. Bei dem Gedanken, dass ihm irgend so eine gefährliche Spinne in die Kleidung kriechen oder eine große Schlange ihn einwickeln und erwürgen könnte, standen ihm die Haare zu Berge. Wie konnte Jeremiah da so ruhig schlafen?! Auf der anderen Seite konnte man eh nichts dagegen unternehmen. Man sah ja die Hand vor Augen nicht. Selbst wenn irgend so ein Vieh es auf einen abgesehen hatte, würde man es erst bemerken, wenn es einen schon fast gefressen hatte.
Schöne Aussichten sind das, dachte Thomas.
So blieb er sehr lange wach und lauschte mit weit aufgerissenen Augen auf die Geräusche des Waldes.
Irgendwann in der Nacht gesellte sich ein neues Geräusch hinzu. Zuerst wusste er nicht, was es war und bekam schreckliche Angst, weil es immer lauter wurde. Aber dann bemerkte er, dass es vom fallenden Regen herrührte. Die Tropfen kamen nur spärlich am Boden an, aber nach einiger Zeit ging so ein Guss nieder, dass er geduscht wurde.
Jerry wurde vom Regen wach. Er verzog den Mund und meinte mit dem Mut der Verzweiflung in Thomas’ Richtung: “Darum heißt das hier Regenwald! Aber einen Trost haben wir. Wir werden uns bei der Wärme nicht so schnell erkälten. Hoffe ich zumindest.”
“Das baut mich jetzt echt auf”, erwiderte Thomas.
“Versuch, wieder zu schlafen!”, mahnte Jerry.
“Wieder?”, meinte Thomas fragend, “ich hab die ganze Nacht noch kein Auge zugetan.”
“Dann versuch es nochmal. Es wird morgen ein anstrengender Tag!”
“Na schön, ich werde mich bemühen!”
“So ist’s brav. Gute Nacht, großer Bruder!”
Thomas saß trotz seiner Bemühungen noch lange wach. Aber irgendwann übermannte ihn doch der Schlaf. Trotzdem fühlte er sich am nächsten Morgen wie gerädert, und alles tat ihm weh. Wie sehnte er sich nach Jerrys unbequemem Canapé. Das war ja der reinste Luxus gegen diesen modrigen Boden.
Jerry schien das alles nicht so viel auszumachen. Er war schon wach, als Thomas müde die Augen öffnete. Inzwischen war es wieder hell geworden, und Jerry kochte Kaffee.
Davon werde ich bestimmt nichts trinken, schließlich kann er mich nicht zwingen, dachte Thomas energisch.
Jerry sah von seiner Arbeit auf und bemerkte, wie sich Thomas streckte und die Augen rieb.
“Guten Morgen, Tom! Na, wie hast du geschlafen?”, meinte er voller Energie.
“Frag’ nicht”, entgegnete Thomas mit muffeligem Gesicht, “ich habe das Gefühl, als hätte ich überhaupt nicht geschlafen!”
“Das immer so, wenn man die erste Nacht in einer unbekannten Umgebung ist. Morgen Abend wird es schon besser gehen. Und glaub mir, nach ein paar Monaten schläfst du wie ein Baby!”
“Nach ein paar Monaten?!”, fuhr Thomas entsetzt hoch.
“Na ja, kleiner Scherz von mir, aber ein paar Wochen werden wir wahrscheinlich schon brauchen.”
“Dann werden wir aber nicht zu meinem Geburtstag in New York sein, wie du gemeint hast.”
“Nein, das sieht nicht gut aus.”
“Hm, na ja, auch nicht so schlimm. Hauptsache, wir schaffen es, und sie kriegen uns nicht. Alles andere ist unwichtig.”
“Das ist eine gute Einstellung, Tom. Und jetzt werden wir frühstücken. Hier ist dein Kaffee!”
Jerry reicht dem Bruder einen Aluminiumbecher mit schwarzem Kaffee.
“Milch und Zucker haben wir leider nicht, aber der Kenner trinkt ihn eh schwarz”, fügte er grinsend an.
“Tja, Jeremiah, wirklich sehr lieb, dass du dir so viel Mühe gemacht hast, aber leider war das umsonst. Ich werde keinen Kaffee trinken. Vergiss es. Keine zehn Pferde bringen mich dazu!”
Thomas machte eine abwehrende Handbewegung.
“Okay”, entgegnete Jerry, “wie du willst. Ich würde allerdings warmen Kaffee bevorzugen.”
Er nahm den Becher zurück und stellte ihn vorsichtig beiseite.
“Was wird das jetzt?!”, wollte Thomas wissen.
“Ich lasse den Becher auskühlen, damit ich den Kaffee später in eine Plastikflasche umfüllen kann. Auf diese Weise hebe ich dir deinen Kaffee auf”, befand Jerry mit stoischer Ruhe, “für gleich, wenn du Durst bekommst.”
“Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich gleich kalten Kaffee trinken werde, wenn ich Durst bekommen sollte. Ich habe schon keinen heißen Kaffee getrunken, also denk nicht, dass ich kalten Kaffee trinke. Ich werde überhaupt niemals Kaffee trinken, lieber verdurste ich!”, erregte sich Thomas.
“Glaub mir, du wirst”, hielt Jerry dagegen, “und wenn ich dich niederschlagen und ihn dir löffelweise einflößen muss. Du musst trinken. Du schwitzt doch hier ohne Ende. Natürlich ist Kaffee nicht sonderlich zum Durstlöschen geeignet, weil er dem Körper Wasser entzieht, aber es ist wenigstens etwas Flüssigkeit. Nur solange, bis du dich akklimatisiert hast. Dann kannst du auch Wasser trinken.”
“Warum hast du keinen Tee gekauft?”
“Hab keinen gesehen.”
“Du lügst! Du hast alles Mögliche gekauft, warum also keinen Tee!?”
“Hör mal, ich konnte kein 5-Gang-Menü mit auf die Flucht nehmen!”
“Ich rede hier auch nicht von Gourmetfutter, sondern von ein paar extrem leichten Teeblättern!”
“Wir haben nur ein Gefäß, um Getränke darin zuzubereiten, und ich wollte mich mit dir nicht deswegen streiten, dass du behauptest, in dem Gefäß dürfe ich keinen Kaffee kochen, nur weil dann der ganze Teegeschmack verdorben wird.”
“Also hast du’s doch extra gemacht!”
Thomas war wütend.
“Na ja, es ist wirklich nicht von ungefähr, dass die Leute hier unten ziemlich scharf würzen und viel scharf gerösteten Kaffee trinken. Das muss wohl wirklich desinfizieren, so dass sie nicht so schnell Durchfall bekommen”, lenkte Jerry ein.
“Du willst mir nur einen Bären aufbinden!”, ereiferte sich Thomas immer weiter.
“Nein, ehrlich, kein Witz!”, rechtfertigte sich Jerry, “aber frag mich nicht, in welcher medizinischen Fachzeitschrift das gestanden hat. Es ist einfach eine Lebenserfahrung. Die Leute haben hier nicht so viel Geld, dass sie es in alle möglichen Medikamente investieren können. Da behilft man sich eben so.”
“Mit Kaffee!”
“Ja, mit Kaffee, wenn’s denn recht ist!”
“Ich glaube, dass das deine ganz private Jeremiah-McNamara-Lebenserfahrung ist. Also erzähl mir hier nicht einen vom Pferd.”
“Na schön, was soll’s. Aber ich glaube nicht, dass du im Zweifelsfall lieber verdursten würdest.”
“Nun, das werden wir ja dann sehen!”, brummte Thomas.
Nach dem Frühstück brachen die beiden auf. Jerry ging voraus und bahnte den Weg. Trotzdem kamen sie nur langsam voran. So ein Marsch durch unwegsames Gelände war eben kein Spaziergang. Immer wieder gingen auch Regenschauer nieder, denn es war Regenzeit. Außerdem machten