Lichtsturm. Mark Lanvall

Lichtsturm - Mark Lanvall


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Geduldig, beinahe interessiert hatten sie sich von ihm die Geschichte seines absurden Absturzes aus der Welt der Besseren und Wichtigeren erzählen lassen und darüber gelacht. Sie hatten nicht etwa Verständnis geheuchelt, keine guten Tipps heraus gekramt. Sie hatten sich auch nicht betreten abgewandt. Maus und Viktoria hatten einfach nur gelacht. Ben war das damals reichlich seltsam vorgekommen. Erst hatte er sich geärgert, dann aber mitgelacht. Und es hatte ihm verdammt gut getan. Bis dahin war er im Selbstmitleid beinahe ersoffen. Jetzt konnte er seine Existenz endlich einmal als das sehen, was sie tatsächlich war: ein Witz.

      An diesem Abend war Liix gegründet worden, eine Gruppe von Web-Aktivisten, die sich der Wahrheit verschrieben hatten und der Jagd auf all die, die aus der Unwahrheit Profit schlagen wollten. Der Name war die wenig originelle Abwandlung des englischen 'leaks'. Die große Ähnlichkeit zu 'Wikileaks' nahmen die drei dabei billigend in Kauf. Ihr größter Erfolg bisher war, einen selbstgerechten Stadtrat zum Rücktritt gezwungen zu haben. Der Mann war nicht müde geworden, soziale Ungerechtigkeiten zu finden und anzuprangern, wo nicht immer welche waren. Außerdem warf er der Münchner Geschäftswelt pauschal illegale Geschäftspraktiken vor. Maus tat sich ein bisschen in der Blogger-Szene um und fand heraus, dass er sich damit tatsächlich auskannte: Der Stadtrat hatte eine Vergangenheit als Schutzgeldeintreiber, wovon es sogar ein Video gab. Liix hatte zugeschlagen. Liix, die Gruppe, die allerdings auch nach zwei Jahren immer noch aus genau drei Aktivisten bestand.

      „Keiner wird das Video sehen wollen. Zöllner hat zu schnell und zu gut reagiert. Und die Leute im Saal kaufen ihm sowieso alles ab, was er sagt.“ Ben versuchte noch einmal, die Euphorie der beiden in vernünftige Bahnen zu lenken.

      Maus, der in seiner lange zurückliegenden bürgerlichen Existenz einmal auf den Namen Sven Werrn gehört hatte, erhob sich schwerfällig und ließ dabei die leere Chipstüte zu Boden gleiten. Mit einer für seine Verhältnisse schnellen Bewegung nahm er Viktoria das Notebook ab und hielt es Ben vor die Nase. Auf dem Display war Zöllner zu sehen - und zwar in dem Moment, in dem hinter ihm das Raumschiff explodierte. Er zuckte heftig zusammen. Sein Blick zeigte Hilflosigkeit, Verwirrung und Entsetzten. Fast hätte er einem leidtun können.

      „Alter. Warum, glaubst du, hab ich darin den Clown gegeben? Der Kerl hat mir direkt in die Kamera gesehen. Besser geht es nicht!“, sagte Maus und betonte den letzten Satz überdeutlich. „Scheißegal, was danach passiert ist. Das hier reicht völlig. Der schwitzt vor Angst. Er hat Panik. Das ist keiner, dem man sein Geld geben will. Das ist ein supergeiles Video - egal, was du sagst. Mach dich mal wieder locker, Mann! Liix hat zugeschlagen!“

      Ben rieb sich die Augen. Er musste sich eingestehen, dass Maus nicht so ganz daneben lag. Vielleicht war die Aktion ja doch nicht umsonst gewesen. Vielleicht war aus den Videos doch etwas ganz Brauchbares zu machen. Ben wusste, dass Viktoria das hinbekommen würde. Wenn nicht sie, wer sonst?

      Viktoria war der kreative Teil von Liix und außerdem die Freundin von Maus.

      Ben fand das bemerkenswert, denn optisch passte sie überhaupt nicht zu ihm. Viktoria war recht klein, hatte aber eine sportliche Figur und ein überaus hübsches Gesicht. Würde sie nicht diese hässliche Brille tragen und ihre blonden Haare mit bunten Klammern zu einem undefinierbaren Etwas drapieren, sie wäre ein Hingucker auf jeder Party. Allerdings wusste Ben, dass sich Viktoria nichts aus Partys machte und in ihrem Leben wohl auch noch nicht auf allzu viele eingeladen worden war. Nicht deshalb, weil sie meistens in sich gekehrt vor sich hin schwieg. Es waren wohl eher die Momente, in denen sie gerade nicht schwieg. Viktoria war berüchtigt für unpassende Kommentare und entlarvende, spitzfindige Bemerkungen, die sie gerne ohne jegliche Vorwarnung abfeuerte. Wen es traf, war ihr dabei völlig egal. Aber sie saßen immer. Ben hatte das oft genug am eigenen Leib erfahren. Und er kannte die Geschichten, die ihm Maus über sie erzählt hatte.

      „Aber ich hatte doch recht!“, protestierte sie gerne leise, wenn ihr Maus einmal mehr einen versauten Abend zum Vorwurf machte, sie danach aber gleich wieder tröstend in den Arm nahm. Viktoria war merkwürdig, wie eigentlich alle bei Liix. Und sie hatte ein paar außergewöhnliche Fähigkeiten. Kaum jemand konnte so verdammt gut mit Videos und Computern umgehen wie sie.

      Es war Zeit, sie arbeiten zu lassen.

      „Du kriegst das schon hin, Viktoria“, sagte Ben und wuchtete sich stöhnend aus dem Sessel. Der Heimweg würde anstrengend werden.

      Maus hielt ihm seine fettige Pranke hin.

      „Alter, mach Dich locker, okay? Wir waren heute klasse! Ich schwör's.“

      Ben schlug ein.

      Der Heimweg war anstrengend - und schmerzhaft. Sein Knöchel war inzwischen so sehr angeschwollen, dass Ben die Schnürsenkel öffnen musste. Maus hatte ihn mit seinem altersschwachen Honda die dreihundert Meter zwischen dem grauen Beton-Block, in dem er wohnte, bis zur S-Bahn-Station gefahren.

      „Kein Problem. Ich schaff das“, hatte Ben ihm zum Abschied nachgerufen, ohne selbst wirklich daran zu glauben. Mit verzerrtem Gesicht schleppte er sich die Treppe hinunter, durchlief im Schneckentempo die nach Urin stinkende Straßenunterquerung. Mehrmals stützte er sich widerwillig gegen das ergraute alte Graffiti, das die Wände überzog. Ein abgerissener alter Mann kam ihm entgegen, sah ihn mit alkoholverhangenem Blick an und kratzte sich mitleidig den Bart. Dann beschloss er aber, sich um seine eigenen Sorgen zu kümmern und ging ohne ein Wort vorbei. Ben war dankbar dafür. Er wollte nur noch nach Hause.

      Als sich Ben endlich auf den glatten Kunststoff des Sitzes der S1 in Richtung Hauptbahnhof fallen lassen konnte, stand ihm Schweiß auf der Stirn. Einen Moment lang war er versucht, seinen angeschlagenen Fuß auf das Polster gegenüber zu legen, entschied sich aber dagegen. Er durfte es sich nicht zu bequem machen. Er musste noch einmal umsteigen und an die anderthalb Kilometer, die zwischen dem Bahnhof in Gauting und dem Campingplatz lagen, wollte er gar nicht erst denken.

      Erfolgreich kämpfte er einen Anflug von Selbstmitleid herunter. Diese Phase hatte er hinter sich gelassen. Es führte zu nichts. Ebenso wenig, wie seine dunklen Gedanken mit Alkohol zu betäuben. Ben hatte das versucht. Es hatte funktioniert - einen Abend lang. Aber am nächsten Tag hatte der Trübsinn sein Bewusstsein wieder zurückerobert. Und zur Verstärkung hatte er heftige Kopfschmerzen mitgebracht. So sehr sich Ben einen Fluchtweg herbeisehnte: Das war er jedenfalls nicht.

      Stattdessen versuchte er es mit der von Maus verfeinerten Blues-Methode. Vereinfacht gesagt ging es dabei darum, das eigene Elend anzunehmen, sich aber nichts daraus zu machen. Maus hatte herausgefunden, dass in den klassischen Blues-Songs überdurchschnittlich oft die Zeile „my baby, she left me ...“ vorkommt - in dieser oder ähnlicher Fassung. Der Umstand, verlassen worden zu sein, hielt die Blues-Sänger aber trotzdem nie davon ab, ihre Songs mit ordentlich Power und einem gewissen Frohsinn vorzutragen. Eine Haltung, die sich auf das ganze Leben übertragen ließe, meinte Maus.

      „Du hast mir mal erzählt, dass du Blues zum Kotzen findest“, hatte Viktoria unvermittelt eingewandt, was Maus aber nur mit einem Achselzucken quittiert hatte. Ben gefiel die Idee trotzdem. Und manchmal funktionierte sie sogar.

      Der Kerl am anderen Ende des Waggons erregte Bens Aufmerksamkeit. Nicht etwa, weil er sich auffallend benahm oder so aussah. Im Gegenteil: Er trug einen schmucklosen grauen Anzug und dazu ein Hemd ohne Krawatte. Seine Haut war fahl und die dünnen Haare ergraut. Ob man ihn in Farbe oder Schwarzweiß fotografiert hätte, es hätte im Ergebnis keinen Unterschied gemacht. Er las Zeitung. Zwei zusammengekniffene Augen blickten über eine große Hakennase hinweg auf das, was in dem Blatt geschrieben stand. Der Mann war geradezu auffallend unauffällig. Und noch etwas irritierte Ben. Vielleicht irrte er sich ja. Aber hatte der Mann, seit sie in Neuperlach zusammen eingestiegen waren, auch nur ein einziges Mal umgeblättert?

      Ben redete sich ein, dass er Gespenster sah. Was beschäftigte er sich mit einem zeitungslesenden Mann? Er hatte andere Sorgen. Er musste umsteigen. Aus dem Pochen wurde ein scharfes Stechen, als er auftrat. Ben stöhnte leise auf und hangelte sich an den Lehnen und der Haltestange bis zu Ausgang. Kurz bevor sich die Tür wieder schloss, stolperte er auf den Bahnsteig. Blitze zuckten vor seinen Augen. Ben versuchte sie wegzublinzeln, aber es gelang ihm nicht.

      „Alles in Ordnung?“ Der Polizist sah ihn misstrauisch


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