Lichtsturm. Mark Lanvall
Raunen. Einer der Häuptlinge rief empört zum Kampf gegen dieses fremde Volk auf. Aber der neue Fürst winkte ab und sagte mit lauter Stimme:
„Sie lachen über uns, weil Tapferkeit ohne Ordnung und ohne Weisheit nichts ist. Und außerdem glauben sie, dass wir öfter betrunken als nüchtern sind.“
Die Häuptlinge hatten Jahre gebraucht, um nach dieser Nacht ihren Frieden mit dem schweigsamen, seltsamen Fürsten zu machen. Aber mit den Siegen, dem Wohlstand und der Ordnung waren die Zweifel weniger geworden.
An diesem Tag aber zweifelte Kellen an Morcants Entscheidung. Nein, er wusste, dass sie falsch war. Sie war falsch und tödlich.
Wieder waren zwei Stunden verstrichen. Das Dickicht am Rande des Pfads war noch undurchdringlicher geworden. Regen hatte eingesetzt. Zweimal mussten sie anhalten und absteigen, weil der Boden zu weich und zu matschig für die Hufe ihrer Pferde geworden war. Die Feuchtigkeit drang durch Kellens Umhang. Er fröstelte.
Dann plötzlich stoppte Fürst Morcant das Pferd. Unruhig sah er in den Wald hinein, dann zurück zu seinen Männern. Sein Hengst wieherte. Morcants Blick traf den von Kellen. Bedauern und Enttäuschung standen ihm im Gesicht - so, als würde er sich bei ihm entschuldigen wollen.
Wieder starrte er wie gebannt ins dunkle Geäst.
„Manchmal muss man etwas wagen, wenn es viel zu gewinnen gibt.“ Der Fürst machte eine Pause.
Domhnall nutzte sie, um laut vernehmlich zu fluchen. Murddin war der Erste, der sein Schwert zog.
„Verzeiht mir!“, rief der Fürst und zog ebenfalls. Kellen und Domhnall taten es ihm nach.
Und dann kam der Angriff, so plötzlich und heftig wie ein Platzregen.
Der Fürst wehrte mit dem Schwert einen Wurfspeer ab, der ihn sonst unweigerlich getroffen hätte.
Kellen riss seine Stute herum. Keine Sekunde zu früh, denn auch ihn verfehlte ein Speer nur knapp.
Murddin hatte weniger Glück. Kellen sah, dass ein langes Stück Holz aus seiner Brust ragte. Die metallene Spitze der Waffe war vollständig durch den Körper des Kriegers gedrungen und ragte nun tiefrot gefärbt aus seinem Rücken. Mit einem seltsam verblüfften Gesichtsausdruck glitt Murddin seitwärts aus dem Sattel in den Staub.
„Weg hier!“, schrie Domhnall und rammte seinem Pferd die Stiefel in die Seite.
Aber er kam nicht weit. Drei Schwertkämpfer versperrten ihm den Weg. Mindestens ein Dutzend weitere sprangen wild schreiend aus dem Unterholz. Unmöglich zu sagen, wie viele genau es waren. Ihre nackten Oberkörper waren bunt mit Fratzen und kriegerischen Symbolen bemalt. Die Haare hatten sie in Kalkwasser getaucht und zu wilden Skulpturen geformt. Sie sahen aus wie Dämonen.
Kellen versuchte verzweifelt, das Geschehen zu überblicken und zu sortieren. Aber es gelang ihm nicht. Er spürte einen festen Ruck unter sich. Die Stute war getroffen. Kellen drückte beide Füße in den Sattel und stieß sich mit aller Kraft ab, als sein Pferd stürzte. Er traf mit beiden Beinen auf den Boden und rollte sich ab, um dem Aufprall die Wucht zu nehmen.
Noch bevor er vollständig wieder oben war, trieb er einem Angreifer das Schwert in die Eingeweide.
Kein Zögern! Kein Nachdenken. Der Krieger hatte nun auch in Kellen die Macht übernommen. Ohne ein Ziel zu haben, schwang er sein Schwert und drehte sich um die eigene Achse.
Er traf einen weiteren Mann am Arm. Blut spritzte ihm in die Augen. Er taumelte, wischte mit dem Ärmel über das Gesicht, suchte ein weiteres Mal nach Ordnung in dem Durcheinander.
Domhnall und Morcant kämpften verbissen. Ein paar Männer lagen auf dem Boden. Einer von ihnen war Ardric, der Druidenschüler mit dem großen Wissen und der großen Klappe. Seine Augen waren offen, aus einer klaffenden Kopfwunde sickerte Blut. Wie sinnlos, ging es Kellen durch den Kopf.
Nicht denken! Drei von Brams Männern stürmten auf Kellen zu. Er parierte den wuchtigen Hieb des ersten Kriegers, machte einen Ausfallschritt und schlug ihm den Kopf ab. Die beiden anderen waren vorsichtiger. Sie blieben auf Abstand und griffen ihn nun von zwei Seiten gleichzeitig an.
Noch einmal drehte er sich um die eigene Achse. Diesmal traf er nicht.
Ein Hieb verfehlte nur knapp seinen Kopf. Kellen blockte einen weiteren mit dem Schwert ab und rammte seinem Gegner gleichzeitig den Fuß in den Oberschenkel. Der schrie vor Schmerzen auf, taumelte zwei Schritte zurück. Kellen setzte mit dem Schwert nach und verpasste dem Krieger eine klaffende Schnittwunde quer über den Bauch.
Einen Moment später drang etwas tief in Kellens Rücken ein. Der Häuptling spürte Kälte und Hitze zugleich. Der zweite Krieger! Er war hinter ihm, Kellen hörte sein Schnaufen. Dann setzte der Schmerz ein - betäubend, rasend, erbarmungslos. Der Krieger zog sein Schwert aus Kellens Körper. Die Kälte ließ augenblicklich nach. Aber nun war da noch mehr Hitze, noch mehr Schmerz und ein metallischer Geschmack, der sich in seinem Mund breitmachte. Kellens Schwert fiel, seine Beine knickten ein wie dünne Äste. Er ging auf die Knie und sah nun seinen Mörder. Der Krieger keuchte, aber seine Augen funkelten triumphierend. Dann holte er mit dem Schwert aus, um sein Werk zu vollenden. Schmuck für die Hütte eines Helden! Wie sinnlos, dachte Kellen.
Der silberne Pfeil lag ruhig in der Kerbe zwischen Daumen und Zeigefinger. Ohne auch nur im Mindesten zu zittern, zog die andere Hand des Schützen die Sehne mit dem Pfeilende weit zurück und ließ sie einen Augenblick später nach vorne schnellen. Der silberne Pfeil war auf dem Weg. Er verfehlte zwei dicke Äste um Haaresbreite und flog sirrend seinem Ziel entgegen. Die Flugbahn war leicht gekrümmt, nicht stark genug, als dass es einem der kämpfenden Männer am Bach hätte auffallen können. Sie bemerkten sie ebenso wenig wie den Pfeil selbst, dessen rasende Geschwindigkeit die Augen der Menschen überforderte.
Der Pfeil traf Brams Krieger in den Hals - mit solcher Wucht, dass er wie von einem heftigen Schlag getroffen zur Seite geworfen wurde. Doch keine Trophäe, fuhr es Kellen durch den Kopf. Benommen ließ er sich vollständig zu Boden sinken. Er verstand nicht, was da eben passiert war, und es war ihm seltsamerweise auch nicht so wichtig. Sein Schicksal war besiegelt - so oder so.
Weiße Wolken drängelten die schwarzen beiseite. Der Häuptling sah geradewegs in den Himmel. Auch dort hatte so etwas wie ein Kampf stattgefunden. Der Regen war nun besiegt. Das Licht hatte das Dunkel bezwungen. Wie tröstlich. Wie friedlich.
Etwas Buntes wehte über ihn hinweg, forderte den Rest Aufmerksamkeit, zu dem er noch imstande war. Kellen drehte den Kopf zur Seite. Brams Krieger stürzten - einer nach dem anderen - besiegt von einer …
Kellen kniff die Augen zusammen. Er sah sie wie durch einen Schleier aus Wasser. War sie echt? Oder das Trugbild eines Sterbenden? Eine Göttin, gehüllt in wehende, farbige Tücher. Zwei Schwerter trug sie, in jeder Hand eines und sie bewegte sich mit der Geschwindigkeit eines Raubtiers und mit der Anmut einer Tänzerin. Zwei Krieger wurden von ihr nahezu gleichzeitig getroffen. Blut spritzte. Ein dritter rannte ins Dickicht. Noch ein silberner Pfeil sirrte aus dem Nichts und beendete seine Flucht. Der Krieger prallte mit Wucht gegen einen Baumstamm und sank zu Boden.
Eine Göttin! Kam sie, um ihn zu holen? War es das, was geschah, wenn man starb? Kellen wurde schwindelig. Er schloss die Augen. Eine weiche Hand legte sich auf seine Brust. Wärme, Trost, Frieden strömten in seinen Körper wie Wasser in einen leeren Krug.
„Livan has nerviyen.“ Wie sanft, wie melodiös! Die Stimme einer Göttin. Zwei hellblaue Augen, schön wie das Licht der Sterne. Dann wurde es dunkel um Kellen.
Verfolgt
Vier Scheinwerfer tauchten den eleganten, stattlichen Mann auf der Bühne in grelles Licht. Er trug einen modischen, anthrazitfarbenen Anzug über einem legeren, weißen Hemd. Der sorgfältig gestutzte schwarze Vollbart nahm den markanten Konturen seines Gesichtes die Härte und unterstrich seine zu hundert Prozent seriöse Aura.
Beängstigend, schoss es Ben Hartzberg durch den Kopf. Er saß im Zuschauerraum und beobachtete