Gesprengter Horizont. Matthias Nelke

Gesprengter Horizont - Matthias Nelke


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ihren geklauten Stiefeln die geklaute Kamera und das ge­klaute Zubehör ins Treppenhaus trugen. Selena zog die Tür zu, ent­fernte das Septum aus ihrer Nase und steckte es in die Tasche. Auf dem Weg aus dem vierten Stock zur Straße fragte sie sich, wann die starke Frau von früher gestorben war.

      4. Der Baske

      [Plaza Mayor, 11:15]. Ramón Ybarra war kein starker Mann, nicht besonders zumindest. Er war auch nicht besonders schnell oder an­derweitig physisch begabt. Es gab Menschen, die ihn überragten, und andere, auf die er hinabblicken konnte. Ramón war weder überdurchschnittlich intelligent, noch überdurchschnittlich geris­sen, noch jemand, zu dem man schaute, wenn spontaner Einfalls­reichtum oder ausgereifte Planung verlangt war. Niemand hätte ihn je als eloquent oder charismatisch bezeichnet. Führen konnte Ramón genauso wenig, wie er folgen konnte. Er ging auch nicht als schön durch und niemand hatte ihm je gesagt, dass er über beson­dere Talente im Schlafzimmer verfügte. Die einzige Fähigkeit, von der Ramón Ybarra je profitiert hatte, war, wie sehr seine Umwelt ihn in all diesen Belangen tatsächlich unterschätzte. So wenig er auch konnte, war es doch immer mehr, als Menschen im zutrauten. Und das machte ihn unberechenbar.

      Von dem Mann, der el Viento sein musste, konnte Ramón das nicht behaupten.

      Aus dem Schatten des Säulengangs, der den quadratischen Kopf­steinpflasterplatz zu allen Seiten einfasste, hatte Ramón ihn beob­achtet, seit er angekommen war. In seiner Unauffälligkeit, seinen khakifarbenen Halbschuhen, der luftigen Tweet-Hose und dem weißen Hemd stach er aus dem Schwarm der Pilger heraus wie ein bunter Hund. Zum wiederholten Mal ließ der Mann jetzt seinen Blick schweifen, als hielte er nach jemandem Ausschau. Als er sich wieder in Ramóns Richtung drehte, ließ dieser sich in den Schatten der Säule fallen, an der er gelehnt hatte, und trat zur anderen Seite wieder hervor. Zwischen ihm und der Tweet-Hose lag jetzt der Au­ßenbereich eines Cafés, das zur Feier der Fegefeuertemperaturen Milchshakes und Kaffees unter roten Sonnenschirmen servierte.

      Es verlieh Ramón das Gefühl der Überlegenheit, von dem er noch lange würde zehren müssen, dessen war er sich sicher. Menschen, die sich Ramón überlegen fühlten, hatten einen Hang dazu, ihn das spüren zu lassen, und Ramón hatte das Gefühl, dieses Mal würde es nicht anders sein.

      Doch letztlich warf Ramón eine Pistazie nach, federte mit einer Eleganz, die ihm keiner zugetraut hätte, von der Säule ab und arbei­tete sich durch die Menge.

      »Soll ich dir ein Schild basteln?« Niemand hätte von Ramón je ge­sagt, dass er lustig war.

      »Perdona me?«

      »Oder du fotografierst den Zirkus hier zum vierten Mal. Erregt ungefähr die selbe Aufmerksamkeit.«

      »Entschuldigung, was meinten Sie?«

      Für einen Spanier war er hellhäutig, dachte Ramón. Auch die Glatze passte nicht so recht ins Bild. Aber sein Akzent ließ keinen anderen Schluss zu, obwohl er sich kein bisschen so anhörte wie am Telefon. Dafür entsprach der Rest dem, was Ramón sich vorgestellt hatte. Harte Wangenknochen, hoch, markant, blaue Augen. Darun­ter eine winzige, blasse Narbe wie ein notwendiges Accessoire, das ihn von anderen unterschied. Kein Zweifel, das war der Mann.

      »Ramón Ybarra.«

      Ramón fuhr herum. Er musste blinzeln. Hinter ihm lag der Au­ßenbereich des Cafés. Ein Quadrat aus Chromzäunen, verschönert mit welken Blumenkästen. Darin: Acht Chromtische mit Chrom­stühlen, deren Oberflächen ihn anblitzten, und rote Sonnenschirme in dicken Steinsockeln, angeordnet zu zwei parallelen Reihen. Alle besetzt. Vier Pilgergruppen, siebzehn Hüte. Links, ein einsamer Hut hinter einer Zeitung. Rechts, zwei Pärchen, sechzehn und sechzig. Eine fettleibige Frau auf zwei Chromstühlen, die das Café allein deshalb ausgesucht hatte, weil die Stühle keine Armlehnen hatten. Ein Mann am Telefon. Einer von ihnen wusste, wer Ramón war.

      Für eine quälende Sekunde geschah gar nichts, als sei die Zeit einfach stehen geblieben. Dann schnappte alles zurück. Am zweiten Tisch links von ihm wurde die Zeitung gesenkt. Eine junge Frau mit Sonnenbrille und Pilgerhut kam zum Vorschein. Das ältere Ehepaar faltete einen Stadtplan aus. Ein Hut am hintersten rechten Tisch schnippte den Kellner herbei. Ramón hatte auf den einsamen Mann am Telefon getippt, doch der stand jetzt von seiner leeren Kaffeetas­se auf und verließ das Gehege. Ramón spürte, wie er aus sicherer Entfernung gemustert wurde, so wie er selbst vor nicht einer Minu­te aus scheinbar sicherer Distanz beobachtet hatte. Wie Details sei­ner Erscheinung mit einer virtuellen Akte abgeglichen wurden. Wie Korrekturen vorgenommen wurden.

      Die Frau mit der Zeitung stand auf. Auf ihrer linken Brust prang­te der Ghostbusters-Geist, daneben der Schriftzug. Sie nahm den gelben Pilgerhut ab und legte ihn zu der Zeitung auf den Tisch; kas­tanienbraune Fransen fielen ihr ins Gesicht, ein Zopf schwappte in ihren Nacken. Als sie vor Ramón stehen blieb und die Sonnenbrille abnahm, fiel der Tourist von ihr ab wie ein falscher Schatten.

      Normalerweise hätte Ramón unter keinen Umständen geglaubt, dass jemand wie sie die Person sein könnte, die er suchte. Sie war zu jung, jünger noch als er selbst. Und kleiner. Und eine Frau. Scheiße, sie trug einen Pferdeschwanz. Doch da war etwas in ihren blauen Augen, das keinen Zweifel zuließ, weil es nur zwischen zwei Dingen unterschied: Feinden und Beute. Und so wie Ramón den Mund öffnete, so wie sich alle seine Gedanken verabschiedeten, und nichts herauskam, wurde er letzteres.

      Als el Viento sich in Bewegung setzte, dackelte Ramón hinterher.

      Mittlerweile sprengten Pilger den Plaza Mayor; es war zwecklos zu zählen, wie viele es waren. Ramón zählte einen Schwarm. Gelbe, orange, blaue Hüte und Basthüte mit Scherpen in den Farben unter­schiedlichster Flaggen. Wie wild pirouettierten sie beim Versuch, Panoramabilder des Säulenganges aneinander zu reihen, verteilten »Free Hugs« wie Geschlechtskrankheiten, flashmobten auf den Be­fehl einer unsichtbaren Königin, sprengten Gruppenfotos und ver­suchten in den fünf auswendig gelernten Worten Spanisch, ihre Nutzlosigkeiten gegen die anderer einzutauschen. In der rückwärti­gen Ecke des Platzes war ein Stand aufgebaut worden, den eine dreizackige Krone brandmarkte. Der Schwarm pulsierte darum. Mit Postkarten, Ansteckern, neuen Hüten, Flyern, Plastikfächern, Plas­tiktröten, Plastikrasseln und Schälchen mit dampfendem Chilli con Carne kehrten die Hüte zurück und flohen in den Schatten. Ramón und die Frau entkamen dem endlosem Schieben, Rempeln und sich Entschuldigen durchs Westtor. Im Laufen warf sich Ramón eine neue Pistazie ein.

      Die Frau sprach erst wieder mit ihm, als sich die Massen auf dem Plaza de Sankt Miguel zu lichten begannen.

      »Du hast was für mich?«

      Am Telefon hatte er gedacht, seine Stimme war hell für einen Mann. Jetzt dachte er, sie war verflucht tief für eine Frau. Doch vor allem, dachte er: Ihr Baskisch ist makellos. Es traf Ramón so unerwar­tet, dass er stehen blieb.

      »Eine Baskin.«

      Ihre Füße kamen widerwillig zum Stehen. »Baskisch. Es sei denn, du bevorzugst Castellano? Wir haben schließlich... sensible Dinge zu besprechen.«

      »Sensibel.« Ramón prustete. »Hast Baskisch einfach aus Laune gelernt, ja? Hattest einen Stecher in Bilbao, war's so?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, baskisch lernt man nicht, um sich auf dem Welt­markt einen Vorteil zu verschaffen.«

      Er zückte die Pistazienpackung, nahm eine Handvoll und steckte sich die erste zwischen die Zähne. Langsam fand er seine Sprache wieder. Er reichte die Packung weiter. Die Frau wollte sie nicht. Sie versuchte auch kein zweites Mal, Ramón einzubläuen, dass sie nur baskisch sprach. Sie drehte sich um und ging. Doch Ramón hatte keine Eile mehr aufzuschließen. Als der zum Pilgerweg gewachsene Bürgersteig es ihm erlaubte, schlüpfte er zurück an ihre Seite.

      »El Viento ist also Baskin.« Ramón besah sich die Frau von der Seite. Sie sah aus, wie eine der Referendarinnen, die man der Krise zum Fraß vorgeworfen hatte. Hübsch. Über den Pferdeschwanz konnten sie sicher reden. »Scheiße, wie alt bist du, dreißig?«

      El Viento verstand die Frage, auch die zwischen den Zeilen. »Auch Frauen dürfen töten«, antwortete sie.

      »Mir


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