Gesprengter Horizont. Matthias Nelke

Gesprengter Horizont - Matthias Nelke


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doch Henrik besaß tatsächlich einen Blick, dem er nicht standhalten konnte. Wieder sah Ben weg, wünschte sich weg.

      »Soll ich überhaupt fragen, wo du warst?«

      »Woanders.«

      »Da bist du in letzter Zeit ja öfter.«

      »Gut beobachtet.«

      Allein der Gedanke munterte ihn nicht auf. Das Gespräch entwi­ckelte sich anders, als er erwartet hatte. Das war kein seichter Psy­choplausch; in die Bahn passte keine Couch und es war verdammt noch mal zu heiß für Samthandschuhe.

      »Scheiße, Benjamin, ich kann das hier nicht alleine machen. Du bist hier als Übungsleiter. Ich brauch deine Hilfe.«

      »Du hast Alicia und André.«

      »Das ging vielleicht in Barcelona. Madrid wird das reinste Chaos. Und momentan weiß ich nicht, ob du mir hilfst, oder ob ich auf dich auch noch aufpassen muss.«

      »Wirst es einfach drauf anlegen müssen.«

      Darauf hatte Henrik keine Antwort mehr. Er war nicht der gebo­rene Pokerspieler; Glücksspiel vertrug sich nicht gut mit seinem Metier, schätzte Ben. Alle seine emotionalen Bluffs verpufften. Von dem Punkt dauerte es nur Sekunden, bis Henrik doch wieder die Samthandschuhe ausgrub.

      »Es ist über ein halbes Jahr her, Ben, irgendwann...«

      Zeit abzuschalten. Dutzende Gespräche, die sie beide im letzten halben Jahr geführt hatten, waren früher oder später an diesen Punkt gelangt. Danach kam nie etwas, dass Ben noch nicht von je­mand anderem gehört hatte, und Henriks Wert als moralische Stüt­ze schrumpfte zu dem eines gewöhnlichen Atheisten. Irgendwann musst du es hinter dir lassen, Ben. Sie ist es nicht wert, Ben. Jeder ist schon mal verprügelt worden, Ben. Sie hatten alle keine Ahnung. Bens Blick schweifte ab, fand André und Alicia mit verzahnten Fingern, fand Moritz neben Suza sitzen, peinliche heimliche Blicke austau­schend, und schließlich Hannah neben ihrer besten Freundin Kim auf einem der Metrositze. An ihr blieb er haften. Sie war ein Ebenbild ihrer Schwester. Diese Karamelllocken. Je länger Ben sie an­sah, wie sie bei Gesprächen lächelte, die Zahnlücke entblößte, oder gedankenverloren ihre Strähnen aus der Stirn pustete, desto bitterer fühlte er sich. Als Hannah seinen Blick über die zwei Dutzend Köp­fe zwischen ihnen bemerkte, fühlte Ben sich eiskalt. Sie lächelte leicht; er bemerkte es nicht einmal. Als die immer gleiche Schlaufe in seinem Hirn ihn in die Gegenwart zurückwarf, kam er gerade noch rechtzeitig, um Henriks Preisfrage mitzukriegen.

      »…Du hast noch nicht einmal gesagt, was genau passiert ist. Es auszusprechen, kann dir helfen—«

      »Frag Barbara.«

      Aus den Augenwinkeln sah er Henrik zusammenzucken und fühlte sich besser und schlechter zugleich.

      »Sie kommt nicht mehr zum Gottesdienst.«

      »Nun, sie war immer die Schlauere von uns beiden.«

      Der saß. Endlich. Ein schiefes Lächeln, das selbst nicht zu wissen schien, ob es bedauerte oder trösten wollte, dann drehte sich Henrik um. Ben blieb im Gewühl zwischen den Schiebetüren zurück.

      Etwas weiter den Wagon runter stimmte jemand »Christus en la fé« an, die offizielle Kakophonie des Weltjugendtags. Es dauerte nicht lange und ein halber U-Bahn-Wagon grölte in bemitleidens­wertem Spanisch »Christus im Glauben« ohne ein einziges Wort zu verstehen. Das reinste Babylon, dachte Ben. Der gute Wille änderte nichts. Vor nicht allzu langer Zeit hätte er vermutlich mitgegrölt.

      Ratternd schoss die U-Bahn um eine Kurve und schüttelte ihre Passagiere durch. Irgendwo lachte ein Mädchen im Tumult. Ben drehte sich zur Tür; draußen raste noch immer das Grau des Bahn­schachtes vorbei und ließ ihn an eine Fahrt durch ein Bergwerk den­ken. Höhlenforscher, dachte er, das wär's. Egal wo, nur nicht hier.

      Wie war er nur hierhin gekommen?

      6. Die Göre

      [Kirche San Antonio de los Alemanes, 14:01]. Wie war sie nur hierhin gekommen? Kim wusste es genau, Hanna hatte sie an diesen Ort geschleift, hatte gebettelt und geklimpert und hier saß sie jetzt. Doch das war nur eine chronologische Abfolge. Es erklärte nicht, warum sie es zugelassen hatte. Sie konnte es zurückverfolgen, Wegpunkt für Wegpunkt, und doch kam sie immer an den Punkt zurück, sich zu fragen, wie sie nur an diesen Ort gelockt worden war, den sie sich geschworen hatte, nie wieder zu betreten.

      Kim ließ sich so tief auf der Kirchenbank hinabrutschen, dass sie ihren Kopf auf der Gebetsbuchablage abstützen konnte, steckte die Converse zwischen den Spalt der Vorderbank, zog die Schultern hoch und spielte mit ihrem Zungenpiercing. Die kleine Kapelle wirkte wie eine Ausstellungshalle. Immer neue Leute strömten durch die Vorderpforten und liefen den Kreuzweg im Kreis, der in Messingtafeln an der Wand angebracht war. Hauptfigur leidet zwölf Kapitel und stirbt am Ende, wollte sie ihnen zurufen. Kim wünschte sich, ihr Messdienerwissen vergessen zu können, und drehte die Lautstärke ihres iPods weiter auf, in der Hoffnung es zu zerstören. Das Gerät meldete ihr, dass sie bereits am Maximum angekommen war. Sie drückte sich die Plug-Ins in die Ohrmuschel, bis es wehtat.

      Während sie in den Reihen der Glotzenden nach einem blonden Lockenschopf und einem wasserstoffblonden Kurzhaarschnitt such­te, sprang die Playlist aufs nächste Lied. Ein Kirchenchor begann zu singen, dass man nicht immer das bekommen konnte, was man wollte. Und Menschen sagten, Ironie sei tot. Sie wusste nicht einmal mehr den Namen des Jungen; irgendwas Neudeutsches, das Dritt­klässler cool finden, mehr eine Diagnose moderner Elternschaft als ein Name. Im Musikunterricht hatte jeder Schüler sein Lieblingslied mitbringen sollen und der Junge, den alle Drittklässler cool fanden — Tim oder Tom oder so —, hatte das Mädchen mit dem Rocker-Vater um Rat gefragt. Seit der bei Kims letztem Kindergeburtstag die Tür in sein Schlagzeugzimmer geöffnet hatte, sprach man über ihn in der 3A nur noch im Flüsterton. Kim hatte eine CD gebrannt. Mit den Stones und einem Herzchen drauf. Als die Klasse nach fünfzig Sekunden Gospelchor am Anfang von »You can't always get what you want« mit dem Lachen nicht mehr aufgehört hatte, war Tim oder Tom, oder wie er auch geheißen hatte, unter Tränen hin­ausgestürmt. Auf dem Nachhauseweg passte der Junge Kim ab, um es sie büßen zu lassen. Von allen Jungen und Mädchen, die Kim in ihrem Leben danach noch verprügelt hatte, hatte Timtom es immer am meisten verdient gehabt.

      Jemand stöpselte Mick Jagger aus ihrem linken Ohr und ließ Flip­flopklatschen und Tuscheln in ihre Ohrmuscheln fluten. Kim spürte ihren Wutpuls schneller schlagen.

      »Und, was hören wir?« Am anderen Ende der Kopfhörer wurde gezogen und auch der zweite Stöpsel ploppte aus Kims Ohr und pendelte zu Boden. »Ups.«

      Kim blinzelte nach links. Wäre da nicht diese Zahnlücke, dachte sie. Und wüsste sie nicht so verdammt gut, sie einzusetzen.

      Hannahs entwaffnendes Grinsen spannte sich von einem Ohr zum anderen. Unter dem Lockenpony blühten braune Augen auf. Sommer sprossen. Jungs drehten sich nach ihr um, und sie war sechzehn und wusste es nicht einmal. Doch Kim blieb sich sicher, es war die Zahnlücke.

      »Was willst du?«, antwortete Kim. Ihr Grinsen verriet sie längst.

      »Bin fertig.«

      »Worauf warten wir dann noch?«

      Hannahs Handy klingelte und sie warf einen leuchtenden Blick darauf. »Jacob sucht noch immer sein Portemonnaie.« Schon tippte sie eine Antwort.

      »Du weißt noch, was er vorhin gesagt hat, oder?«, fragte Kim. »Er wollte zu diesem Bahnhof Atocha, wo wir mit dem Regionalzug an­gekommen sind. Da wo sich vorhin die Pilger und Einheimischen fast geprügelt haben. Auf wen denkst du, wird dein Märchenprinz die Steine werfen, huh?«

      Vielleicht gibts da ja ne Schlägerei, hatte Jacob geflüstert, sodass nur sein Bruder, Kim und Hannah es hatten verstehen können.

      »Blabla, das sagt er ja nur«, wiegelte Hannah ab. Doch sie schien Zweifel zu bekommen und hob den Kopf.

      Kim


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