Gesprengter Horizont. Matthias Nelke

Gesprengter Horizont - Matthias Nelke


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in die Pilger gekommen. Immer mehr gelbe Punkte sammelten sich in der Mitte, wo bereits ein Fleck wartete, als würden sie wie vom Sum­men der Bienenkönigin angelockt. Das Rufen kam aus ihrer Mitte. Gesang. Je mehr spontane Münder hinzukamen, desto lauter wurde es, bis es auch auf der Treppe deutlich zu verstehen war.

       »Esta es la juventud del papa…«

      Einige der Jugendlichen um Oscar und Mo riefen ihnen wütende Beschimpfungen entgegen, die im Jubel der Pilger untergingen. Os­car war froh, dass Mo sie nicht verstehen konnte. Auch Selena, Ja­cob und Nando hatten aufgehört zu diskutieren und verfolgten das Geschehen. Nando fiel sofort in die Tiraden der anderen mit ein.

      Langsam setzte sich der Pilgerpulk in Bewegung. Fahnen wuch­sen aus der Menge empor, wurden geschwenkt: spanische, südame­rikanische, sogar eine aus der Südsee. Stetig wurden es mehr. Oscar sah es kommen, bevor »es« irgendetwas war, spürte die Lufttempe­ratur um zehn Grad ansteigen. Er sah zu Selena. Irgendwie glaubte er, sie wüsste, was zu tun sei; sie wusste es immer. Doch Selena sah nur von der Treppe auf das Geschehen auf dem Platz hinab, fast mit glasigen Augen, als starre sie in eine ferne Vergangenheit.

      Irgendjemand musste es zuerst gebrüllt haben. Später wusste Os­car nicht, woher es gekommen war, doch als die Pilger die Treppe erreichten, stürmte es ihnen entgegen.

      »No esta la juventud del papa! No esta la juventud del papa!«

      Sie waren noch immer in der Unterzahl. Dafür schrien sie mit sol­cher Wut, dass die in vorderster Front gehenden Pilger vor Schreck aufgehört hatten zu singen. Einige wagten sich nicht die Treppe hinauf, ließen sich zurückfallen. Erste Mutige gestikulierten mit den Armen zurück, pfiffen, traten aus dem Schwarm hervor und auf die Dorfjugend zu. Nando und andere traten ihnen entgegen.

      In der Hitze der Situation fiel der erste Schlag. Oscar hörte nur, wie das Brüllen plötzlich anschwoll, und spürte die Rotte zwei Schritte nach vorne schwämmen. Er sah Nando einen wilden Schwinger verteilen und einen kleinen, feisten Südamerikaner zu­rückschlagen. Sofort warf sich ein anderes Bündel gegen ihn und beide rollten zwei Stufen hinunter, außerhalb Oscars Blickfeld.

      Plötzlich waren die Pferde da. Ihre Hufe donnerten auf den Trep­pen, trieben beide Lager zurück, zusammen, auseinander. Polizisten sprangen ab und brüllten Kommandos. Oscar sah Schlagstöcke. Während die Männer und Frauen in Helmen eine Kette bauten, um die Jugendlichen einzudämmen, prügelten sich an den Rändern noch immer welche.

      »Hey«, rief Jacob. »Was ist mit denen? Die haben angefangen!«

      Doch die Pilger wurden nicht weiter behelligt. Auch Selena brüll­te jetzt. Sie drückte ihr Gesicht gegen die Scheibe eines Sicherheits­helms, die Zähne bissen sich daran stumpf wie die eines Nagetiers an einem zu großen Ei aus Panzerglas. Mit rudernden Armen ver­suchte sie durchzukommen, zeigte auf die andere Seite der Gasse, die die Polizisten jetzt bildeten, auf die Pilger, die sich bereits zer­streuten und schnell das Weite suchten. Arme wie Schranken war­fen sie zurück, fast fiel sie hin. Jacob fing sie auf. Im nächsten Au­genblick stolperte Oscar über die Kamera an seinen Füßen und ver­lor beide aus den Augen.

      8. Martha Salamanca

      [Bankfiliale am Plaza de Lavapiés, 18:05]. Martha Salamanca hätte wetten können, dass der Mann im schwarzen Anzug eine Paul-Mc­Cartney-Maske aus Plastik getragen hatte, als er am ersten und zweiten Fenster vorbeigegangen war. Ihr linkes Knie hatte sich schon Richtung Alarmknopf unter ihrem Mitarbeiterschreibtisch be­wegt, da betrat der Mann die Bank durch die automatische Schiebe­tür — ohne Maske. Kein Bankräuber. Nur ein abstoßendes Raubvo­gelgesicht, in dem kleine gelbe Augen unter spitzen Brauen lauer­ten. Dabei hätte sie schwören können…

      Es war der verdammte Turm! Er machte Martha schon den ganzen Tag unruhig; seit sie am Morgen die Karten gelegt und aus­gerechnet auf der 6, die für nahe Zukunft stand, den Turm umge­dreht hatte. Der Turm sagte endzeitliches Chaos voraus, das Ein­stürzen alter Systeme. Das hatte er schon einmal, im März vor sie­ben Jahren, erinnerte sich Martha. Damals hatte es drei Tage ge­dauert, bis das Chaos Madrid erreicht hatte. In einem vollgepackten Pendlerzug. Seit 8 Uhr wartete Martha darauf, dass sich der Turm ein zweites Mal bewahrheitete.

      Der Mann im schwarzen Anzug hatte sich an der Information er­kundigt und steuerte jetzt direkt auf Marthas Schreibtisch zu, im Schlepptau eine Frau. Martha nahm Haltung an.

      »Señora Salamanca?« Der Mann streckte die Hand aus. »Ramón Ybarra, wir hatten telefoniert.«

      Ach ja.

      Martha schüttelte zuerst die Hand von Ramón Ybarra. Sein Hän­dedruck war stark, doch seine Aura schwach. Seine Begleitung stell­te sich nicht vor. Die braunen Haare hatte sie zu einem unvorteil­haften Bauernzopf geflochten, der direkt über der Stirn anfing und sie aussehen ließ wie ein Dinosaurier. Unter dem schlichten weißen Top erahnte Martha Muskeln. Ihre Aura ließ Marthas Arm kribbeln. Die Karten fielen ihr ein — als könnte sie sie je vergessen. Der König der Schwerter auf dem Turm. Martha bat die beiden Platz zu nehmen und hielt wie jedes Mal die Luft an.

      Ybarra setzte sich nach links, die Frau nach rechts.

      Anders herum wäre Martha Salamanca wohler gewesen. Was ihre Kollegen bei der BBVA von all den Dingen, die man zwischen Bürotischen und der Cafeteria eben nicht teilte, vermutlich noch mehr beunruhigt hätte als ihr Nebenjob bei der Madrider Mafia, war vermutlich ihr Glaube an kosmische Synchronizität. Fünfzig Prozent von Marthas Evaluationen, egal ob für die BBVA oder Án­gel Borja, bestand darin, auf welchen der beiden Stühle der Kunde sich setzte. So wie Karl Gustav Jung ging auch sie davon aus, dass Ereignisse und Sachverhalte von inhaltlicher Korrelation sich auch in der Realität parallel verhielten, sei es zeitlich oder räumlich. Setz­te sich jemand auf den linken Stuhl, gegenüber des Knies, auf das sie einen lachenden Smiley tätowiert hatte, lag nahe, dass man ihm oder ihr mit dem Geld vertrauen konnte. Andernfalls… nun, ein trauriges Emoticon stand auch bei Martha für nichts Gutes. So weit hatte sich Ramón Ybarra schon einmal intuitiv richtig verhalten. Die anderen fünfzig Prozent hatte Martha wie immer bereits die Karten entscheiden lassen.

      »Señor Ybarra.« Die Fremde machte Martha unruhig. Sie brauchte Zeit. »Kurzfristiger Kredit, richtig?«

      »Genau.«

      »10.000 Euro?«

      »10.000 Euro.«

      »Sie kennen die Konditionen? Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie das tun, doch ich gehe gerne auf Nummer sicher.«

      Ramón nickte. »Vierzig Prozent Zinsen, nächsten Monat.«

      Martha öffnete ein Programm, das sich von ihrer externen Fest­platte unauffällig über die Betriebsmaske des Bankrechners schob und tippte einige Befehle ein. Die Daten wurden — wie eine ganz normale Kreditvergabe — digital auf dem Server der BBVA gespei­chert, sodass sie sie jederzeit abrufen konnte, wenn sie musste. Es brauchte nur einige falsch angeklickte Kästchen und die Transakti­on tauchte nie in den Bilanzen der Bank auf. Viva España!

      Die Wirkung der Aura nahm bereits ab, so schnell, dass Martha sich wunderte, wie sie sie jemals so heftig gespürt haben konnte.

      »Sie haben dabei, was ich von Ihnen brauche?«

      Ybarra legte die Mappe auf den Tisch. Martha überprüfte einige der Daten stichprobenartig, verglich Ybarras Passfoto mit seinem richtigen Gesicht…

      Vielleicht hatte die Frau ihrerseits mit einer starken Aura Kontakt gehabt, und jetzt spürte Martha den Schatten in der Fremde. Wie radioaktive Strahlung? Martha wusste, dass es so etwas gab.

      »Noch einmal: Sie leihen kein Geld von mir, ich regle nur die Über- und Rückgabe. Wenn Sie also denken, ich verdiene Ihren Re­spekt nicht genug, um es mir pünktlich rückzuerstatten, lassen Sie sich das gesagt sein. Das Geld gehört jemand anderem, die Zinsen auch. Und Señor Borja liegt sehr am Herzen, was ihm gehört. Sie verstehen?«

      Ybarra nickte. Die Frau auf dem rechten Stuhl sagte noch immer


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