Gesprengter Horizont. Matthias Nelke

Gesprengter Horizont - Matthias Nelke


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war er echt erbärmlich.«

      »Lesbische Studentenfreundin!«

      »Ich wette, ständig.«

      »Eltern? Nein….«

      »Ich wette, im Stillen zählst du mit und es frisst dich auf.«

      »Großeltern?«

      Es gab eine Pause, die Jacob steif werden ließ. Sexuelle Spannung und scharfe Worte hatten für ihn schon immer unzertrennlich zu­einander gehört; das eine kam mit dem anderen. Es war wie beim Tango. Die herausfordernden Schritte der Frau, die lockenden Schritte des Mannes, die atemlosen Pausen.

      Victoria antwortete zuerst: »Großmutter.«

      »Vierzehn Mal«, gab Jacob zu. »Und ein halbes. Wir haben uns auf einen Irokesen-Schnitt geeinigt. Die nächsten drei Wochen wa­ren für meinen Bruder wahrscheinlich die schönsten seines Lebens.«

      »Ich würde sagen, du hast ein chronisches Problem.«

      »Was soll ich sagen?« Er grinste. »Gerate oft in Schwierigkeiten.«

      »Gibt schlechtere Eigenschaften.«

      Jacob wollte nicht widersprechen. Victoria nutzte die Stille, um ein Glas aus einem der Schränke zu holen und es mit Orangensaft aus dem Kühlschrank zu füllen. Sie reichte es ihm.

      »Wollen wir?«, fragte Jacob.

      Sie ließ zur Antwort den Rasierer an.

      Das Geräusch des schnurrenden Rasierers ließ ihn härter werden und Jacob schlug zur Sicherheit die Beine übereinander. Hinterher fuhr Jacob sich mit der Hand über den Schädel, fand jedoch keinen Halt mehr. Nur noch vier Millimeter Prärie und Phantomschmerz.

      »Zufrieden?«, suchte er das Gespräch, das der elektrische Rasie­rer zerstückelt hatte.

      »Schon. Sieht furchtbar aus.«

      »Darf ich meinen Anwalt anrufen?«

      Victorias Lachen lief ihm wie Butter den Rücken runter. Jacob wusste sofort, dass er alles tun würde, um es öfter zu hören. Wäh­rend sie seine Haare zusammenkehrte, lehnte Jacob sich an die Kü­chenzeile und sah ihr zu.

      Wieder vibrierte sein Handy.

       FENSTER!

      Ein verstohlener Blick an die Uhr über dem Kühlschrank verriet Jacob, dass sie den vereinbarten Treffpunkt am Puerta del Sol längst verpasst hatten. Er ging zum Fenster. Drei Stockwerke tiefer häm­merte Moritz mit dem Zeigefinger auf sein blankes Handgelenk. Ja­cob hob zehn Finger gegen das Glas. Für Moritz nächste Geste reichte einer.

      Jacob tat es nicht leid, seinen Bruder in die Schlägerei am Bahn­hof Atocha verwickelt zu haben. Es war eine Erinnerung mehr, die sie jetzt teilten und die sie sich noch in Jahren erzählen würden, wenn nicht mehr viele hinzukämen, weil sie sich kaum noch sahen, und die wenigen Male, die sie es taten, mit Erinnern verschwende­ten. Jacob gab seinem Bruder gerne das Gefühl, dass Moritz ihn mehr brauchte als umgekehrt. In Wahrheit hatte Moritz lediglich ein größeres Bedürfnis, seine Emotionen offen auszudiskturieren. Als Jacob vor zwei Monaten aus seinem Auslandsjahr in Costa Rica nach Hause gekommen war, hatte Moritz mitten im Bewerbungs­verfahren für seinen Traumstudiengang in Lancaster gesteckt. Krea­tives Schreiben wie Ian McEwan oder Kazuo Ishiguro. Jacob schäm­te sich dafür, doch wenn er ehrlich mit sich war, fühlte er sich im Stich gelassen. Er für seinen Teil hatte nie aufgehört, an die Luft­schlösser zu glauben, von denen sie als Kinder geträumt und die sie nebeneinander hatten beziehen wollen. Am Tag, als der Brief mit der Zulassung gekommen war, war Jacob um die Häuser gezogen, um nur an etwas anderes zu denken. Die Polizei hatte ihn nach Hause gebracht. Jetzt war er hier.

      »Also.« Victoria schien seine Gedanken gelesen zu haben. »Ha­ben deine Eltern dich gezwungen, deinen Sommer hier zu verbrin­gen, oder so?«

      Victoria hatte den Besen weggestellt. Sie erwartete seine Antwort mit angriffslustigen Augen. Jacob lehnte sich gegen die Küchenzeile und nippte am Rest seines Orangensafts.

      »Wenn das ein Versuch war, mein Alter rauszukriegen, war er echt erbärmlich.«

      Victoria grinste. »Also haben sie dich gezwungen.«

      »Rebellierendes Alter, würde ich sagen.«

      »Autsch!«

      »Hast du Eltern? Gegen so Methoden ist psychologische Kriegs­führung ein Kindergeburtstag.«

      Natürlich war das nur die halbe Wahrheit. Jeder, der Jacob halb­wegs gut kannte, wusste, dass er sich nicht zu Dingen zwingen ließ, die er nicht tun wollte. Auch nicht von seinen Eltern. Auch wenn er erst siebzehn war. In seiner Hosentasche vibrierte das Handy. Jacob sah auf die Uhr. Blieb die eine Sache…

      »Ich sehe wirklich gruselig aus«, sagte Jacob. »Hast du vielleicht was Haarwachs?«

      »Hier wohnen keine Männer.«

      »Und wem gehört der Rasierer?«

      Ihre braunen Augen musterten ihn, wie eine Katze einen Vogel, den sie gefangen hatte. »Vielleicht find ich was.«

      Sie verschwand durch die Tür. Jacob folgte ihr. Er sah sie hinter der selben Tür wie vorhin verschwinden, kurz darauf begann das Rumpeln. Mit drei Schritten war Jacob beim Heizkörper.

      Er hatte schon am Atocha geahnt, dass es Victoria gewesen war, die ihm das Portemonnaie abgezockt hatte — eigentlich schon auf der Paseo del Prado. Abgezogen, mit den Augen geklimpert, wieder abgezogen. Er ließ sich einfach zu gerne herausfordern. Als er die Tasche öffnete, hoffte er trotzdem, nicht enttäuscht zu werden.

      »Olé«, murmelte Jacob.

      Sein Portemonnaie lag oben auf. Es war nicht das einzige.

      10. Die erste Spur

      [Vallecas, 18:45]. Sein Geruch lag oben auf, über dem muffigen Duft jahrzehntelanger Einsamkeit, den viele Bewegungen aufge­scheucht hatten. Selena musste nur zwei Schritte aus dem Türrah­men treten, um zu wissen, dass der Deutsche weg war. Die Spur führte zur Tür — und von da zu ihrer Umhängetasche, die mit weit geöffnetem Deckel auf dem Sessel lag, präzise nicht wo Selena sie abgesetzt hatte. Selena wusste, dass sie sein Portemonnaie nicht mehr darin finden würde. Doch sie wurde überrascht.

      »Hijo de puta!«

      Sie warf die Tasche gegen die Wand. Das Gras. Jacob hatte ihre Joints mitgehen lassen. Sie wollte ihn erwürgen. Sie wollte auch die letzten Haare abrasieren. Sie wollte ihm hinterherlaufen und ihm auf offener Straße die Kleidung vom Leib reißen.

      Das hatte sie jetzt davon, ihn mit in ihre Wohnung gebracht zu haben. Sie hatte mit dem Feuer gespielt und sich verbrannt. Selena hatte nicht damit gerechnet, dass er wegen einer abgewetzten Brief­tasche, in der kein Geld gesteckt hatte, so eine Scharade abzöge. Was nahelegte, dass auch Jacob nur wegen des Adrenalins mitge­kommen war. Der Verlust ihrer letzten Marihuana-Reserven wurm­te Selena lange nicht so wie die Tatsache, dass sie an der Nase her­umgeführt worden war. Das passierte nicht oft. Und es führte gera­dewegs zurück zu dem wahren Grund, weshalb sie sich auf ihn ein­gelassen hatte — auch etwas, dass nicht oft passierte: Der Deutsche hatte ihr gefallen. Scheiße, sie hatte sich um den Finger wickeln las­sen wie eine von Nandos Blondchen. Dabei war er noch ein Kind; er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er nicht einmal volljährig war. Doch er hatte es so selbstbewusst überspielt. Er hatte diese gro­ßen Augen, die einen ansahen, als sei man in jedem Moment die in­teressanteste Person, der er zuhören konnte. Bis zu dem Punkt, an dem er sie einfach hatte sitzen lassen. Das passierte sonst nie.

      Als sie wenig später im Schneidersitz vor einer leeren Zimmer­ecke saß und sich über ihre Ausbeute beugte, bestimmten längst wieder pragmatischere Dinge ihr Denken. Als erstes pflückte Selena jedes einzelne Portemonnaie leer. Plastikkarten kamen dabei auf ei­nen Stapel, Lotto-Zettel und Gutscheine auf einen anderen, Auswei­se jeglicher Art auf eine dritten. Was sich bereits


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