Gesprengter Horizont. Matthias Nelke
gut. Doch er schien nicht wie die Art von Angebern, die Dinge nur sagen, um sich zu profilieren.
»Egal.« Hannah schüttelte den Gedanken ab. »Er will wissen, ob du auch wirklich nicht sein Portemonnaie hast.«
Als Kim nicht antwortete, sah Hannah von ihrem Handy auf.
Kim bemerkte es sofort. »Weißt du was, leck mich.«
»Ich frag ja nur.«
»Zum dritten Mal? Ich fass es immer noch nicht, dass du ihm davon überhaupt erzählt hast?«
»Beim letzten Portemonnaie musste ich fünf Mal fragen, bevor du es rausgerückt hast.« Mit gehobenen Brauen sah sie Kim an. Da war Strenge in ihrem Blick, doch nur eine Prise. Gerade so viel wie zwischen Freundinnen angemessen war. »Aber du hast recht. Dachte, er würde dich mögen, wenn er weiß, wie du drauf bist.«
Kim schürzte die Lippen und sah weg. Ihr ging am Arsch vorbei, ob Jacob sie mochte, oder irgendwer sonst, was das anging. Sie hasste Menschen. Dass das Hannah nie eingeschlossen hatte, war die Basis ihrer Freundschaft.
»Ich mach das nicht mehr, hab ich dir doch gesagt«, antwortete Kim. »Vielleicht hat’s diese Fernseh-Schnecke doch mitgehen lassen. Außerdem, Jacobs ist sicher eh leer, was soll ich dann damit?«
Hannah wusste, dass es Kim nie ums Geld ging. Und Kim wusste, dass Hannah wusste, dass es ihr nie ums Geld ging. Sie lauschte der Stille, während Hannah zu Ende tippte.
In Hannahs Rücken kam eine alte Dame heranstolziert. Ihr abfälliger Blick maß Kim von oben bis unten wie einen Obdachlosen in der Lobby eines Fünf-Sterne-Hotels. Kim blitzte zurück. Als Hannah die Frau bemerkte, fuhr sie herum.
»Hola.«
Hannah lächelte breit.
Der Blick der Dame zuckte zu dem anderen Mädchen, das sie mit offensiver Freundlichkeit in die Flucht schlug, künzelte ein Lächeln zurück und trollte sich.
Vermutlich waren sie deshalb beste Freunde, dachte Kim. Weil Hannah sich auch dann nicht drum scherte, mit Kim in einen Topf geworfen zu werden, wenn sie gelegentlich Geldbörse mitgehen ließ oder Kirchenbänke mit Converse entweihte. Weil Hannah die einzige Person auf der Welt war, die sich um die allgemeine Meinung nie scherte und der Kim deshalb nicht die Zähne ausschlagen wollte, sobald sie den Mund aufmachte. Obwohl, Korrektur: Weil sie die einzige noch lebende Person war.
Kims Gedanken begannen zu wandern, bergab...
»Können wir?«
Hannah kaute ihre Unterlippe. »Ich will dir etwas zeigen.«
»Hier?«
»Mh-hm.«
Widerstand war zwecklos, wusste Kim. Außerdem war es ja nicht so, dass sie Gefallen generell abgeneigt war.
»Also gut, Zahnlücke. Let’s go.«
Suza war gerade dabei, eine bemitleidenswerte Touristin, deren schwarz-rot-goldener Hutkrempe sie als vermeintliche Busenfreundin ausgeliefert hatte, tot- und damit buchstäblich an die Wand zu quatschen, als Hannah ihr den Dakine, den sie sich zu dritt teilten, zwischen die Füße stellte. Die kleine, kurzhaarige Polin in der lächerlichen Latzhose nahm davon nicht einmal Notiz. Ihre Stimme schüttelte die Kirche, Glas klammerte sich an Fensterrahmen. Die deutsche Touristin sehnte sich in die Passion.
Nur wenige Besucher hatten sich in den hinteren Teil der Kirche verirrt. Stahlträger stützten die gotische Decke. Die Orgel und die Empore, auf der sie stand, waren von einer überdimensionalen, milchigen Bauplane eingehüllt. Doch Hannah wusste, wohin sie wollte. Vor einem der bunten Fenster blieb sie stehen. Sonnenlicht fiel durch das getönte Glas und stanzte das Negativ einer in Blau gekleideten Frau an die gegenüberliegende Wand. Im Arm hielt sie einen Säugling. Auf einem Tischchen darunter brannten aufgereihte Teelichter.
»Ich will über Maria reden«, sagte Hannah.
Überraschung.
Kim fühlte ihren Körper kalt werden. Von innen nach außen, wie sonst auch. Sie hatte das Gefühl, mit der Wärme würde alles, was sie menschlich machte, unter ihrer Haut zerrieben, bis sie bloß noch eine Eissäule war, die nichts mehr fühlte. Wie war sie nur hier hingekommen, fragte sie sich wieder. Irgendwann dämmerte es ihr.
»Du wolltest den Scheiß Kreuzweg gar nicht sehen.« Bitterer Speichel sammelte sich unter Kims Zunge. »Dir ging's die ganze Zeit nur hier drum.«
»Ich mach mir Sorgen, OK—«
»Scheiße, ich hab dir gesagt, du sollst mich damit in Ruhe lassen.« Kim schrie bereits. Köpfe drehten sich in ihre Richtung.
Andere Menschen hätten sich davon einschüchtern lassen. Kim sah bedrohlich aus, wenn sie wütend war, das wusste sie. Das machte die Hasenscharte, die ihre Lippe einschnitt. Doch Hannah kannte die Narbe schon lange.
»So funktioniert das aber nicht.« Die kleine Blondine streckte die Stirn nach vorne und zog die Fersen zusammen. »Du kannst nicht einfach Menschen irgendwelche Versprechen abknüpfen und dann erwarten, dass sie mitansehen, wie du dich selbst monatelang kaputt machst. Es gibt Leute, die machen sich Sorgen. Ich mache mir Sorgen.«
»Such dir wen anders, um den du dich kümmern kannst.« Kim wandte sich ab. Doch es gab nur die Fensterikone.
»Jetzt sei nicht so egoistisch, ich will dir helfen.« Hannah holte tief Luft, beruhigte ihre Stimme. Dinge, die man lernte, wenn man mit Kim befreundet war. »Alle verstehen, dass es hart für dich war.«
»Ihr alle versteht einen Scheiß.«
»Okay.« Pause. »Es ist normal, dass du dich fragst, warum so etwas ausgerechnet Maria zustoßen musste...«
»Lass es einfach.«
»…dass du wütend bist... darauf, dass es passiert ist.«
Kim hatte versucht, durch das Glas hindurch den Himmel zu sehen, hatte versucht, die farbigen Scherben bloß als kaputtes Fenster wahrzunehmen. Sie hatte versucht nicht daran zu denken, sich nicht bergab ziehen zu lassen. Aber sie hatte immer nur durch den weißen Fleck des Säuglingskopfes sehen können. Dahinter war der Himmel farblos und still. Und wie jede Stille, wie jede Abwesenheit von irgendetwas, hatte Kim die Farblosigkeit mit ihren eigenen Gedanken und Bildern gefüllt. Bis der Kopf platzte.
»Boah, du raffst es nicht«, brüllte sie. »Ich frage mich nicht, warum Gott sowas zulässt. Weil, wenn es ich es täte, würde das bedeuten, dass ich noch an diesen Schwachsinn glauben würde, und das tue ich nicht. Der Scheiß juckt mich nicht mehr. Auch 16-jährige erkranken an Krebs, so ist das eben.« Ein Klos verstopfte ihre Kehle. Kim musste ihn samt ihrem Schreien hinunterschlucken. Danach bebte ihre Stimme. »Aber sie verweigern verdammt noch mal nicht ihre Therapie.«
Kims Worte hallten in der Kirche nach, verloren sich unter der von Stützbalken gestemmten Decke. Die Teelichter flackerten. Hannah wartete nicht, bis das Echo sich legte.
»Kim, es war Marias Entscheidung—«
»Und damit ist es OK, ja? Es war Marias Entscheidung. Scheiße, hörst du dich eigentlich reden? Du sagst das so, als wäre sie eine erwachsene Frau, aber Hannah, sie war ein Kind. Kannst du mir sagen, wie abgefuckt das ist? Ein Kind, das Chemotherapie verweigert, weil es akzeptiert hat zu sterben.«
Letztlich sah Hannah doch weg. Kim konnte ihr ansehen, dass sie bereits ähnliche Gedanken durchgegangen war. Sie zitterte. Doch Kim kümmerte es nicht. Nicht mehr.
»Und verschon mich damit, dass ihre Überlebenswahrscheinlichkeit gen Null ging. Das hab ich schon tausendmal gehört. Ist es das, was die Religion ausmacht, ja? Wenn die Chancen schlecht stehen, gibt man sich einfach mit dem Ergebnis zufrieden? Ich dachte immer, gläubige Menschen erholen sich schneller von Krebs, ich dachte, der Glaube gibt einem die Kraft, zu kämpfen, nicht die Gleichgültigkeit, zu sterben. Du kannst es drehen, wie du willst, hätte Maria nicht diesen Kirchenquatsch im Kopf gehabt, die hätte nicht im Traum daran