Gesprengter Horizont. Matthias Nelke

Gesprengter Horizont - Matthias Nelke


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unternahm einen verzweifelten Versuch, trat so nah an Kim heran, dass sie sich ihr fast an den Hals warf, doch ihre Freun­din wich aus. Hannahs Stimme klang heiser: »Sie hat einfach akzep­tiert, dass Sterben nichts Schlimmes ist. Ist—«

      »Aber das ist es!« Die Kirchenakkustik warf das Echo zurück. »Es ist schlimm! Aber du stehst hier und verteidigst sie weiter, so wie ich wusste, dass du es tun würdest. Redest über sie, als hättest du sie gekannt, nur weil ihr beide jeden Abend brav gebetet habt. Schleifst mich hier hin, in dieses Scheißkloster. Als würde es mir da­nach besser gehen.« Ein Teil von Kim, der Teil, der nicht die Kon­trolle hatte, bemerkte, dass Hannah angefangen hatte zu weinen. »Warum, denkst du, hab ich dir gesagt, du sollst mich damit in Ruhe lassen? Weil ich nicht gerne mit meiner besten Freundin dar­über geredet hätte? Natürlich hätte ich das. Aber das kann ich nicht. Du bist auf der falschen Seite, du wirst es immer sein.« Plötzlich wollte sie nichts mehr, als allein zu sein. »Du willst mich nicht trös­ten. Es interessiert dich einen Scheiß, was ich denke. Du willst nur, dass ich es endlich akzeptiere, damit ich wieder bin wie früher.«

      Hannahs Ohrfeige ließ die Teelichter zappeln. Sie echote einmal durch die Kirche und kam wieder zurück. Es war nicht das erste Mal, Kim hatte sie fast erwartet.

      »Natürlich geht es wie immer nur um dich«, brüllte Hannah. »Wie kannst du nur so ein emotionaler... Staubsauger sein? Warum bist du überhaupt mitgekommen?« Sie schien noch etwas anderes sagen zu wollen, doch ließ es sein. Mit dem Handrücken wischte sie sich Tränen von der Nase. »Mach doch, was du willst.«

      Kaum waren Hannahs davonklatschende Flipflopschritte ver­hallt, wollte Kim ihr nachrufen, doch sie blieb. Das Gefühl, das sie so liebte, das wie ihre Droge geworden war, kündigte sich an: Sie fühlte sich beschissen. Schuldig. Emotionaler Staubsauger

      Drei Minuten später stand sie noch immer vor dem Kerzenpult unter dem bunten Fenster und stellte sich Hannahs Frage: Warum war sie hier? Das Gewicht des verfluchten Schlüsselbandes, an dem sie wie jeder Pilger ihre 5-Tage-Fahrkarte und die Essensmarken in einer DIN-A6-Plastikhülle spazieren trug, verankerte sie in einer unerträglichen Realität, in der die Messen sie anödeten, Nachtruhe tatsächlich kontrolliert wurde, und sie nach Feuer immer in einer anderen Sprache fragen musste, weil keiner aus ihrer Gruppe auch nur je an einer Zigarette gezogen hatte. Du dachtest, dass es Maria ge­fallen hätte. Vielleicht. Doch da war mehr. Zu behaupten, sie hatte gehofft ihren Glauben wiederzufinden, war wahrscheinlich zu viel. Das Schiff war längst davongesegelt. Gekentert und gesunken. Viel­leicht hatte sie gehofft, einen Abschluss zu finden. Zu akzeptieren. Als Maria gestorben war, war Kim in der Trauerkette bei Wut ein­gestiegen und hatte sich seitdem nicht mehr voranbewegt. Nein, du willst dir vergeben können. Ja, wahrscheinlich das auch... Scheiße, sie brauchte dringend eine Kippe!

      Kim wusste selbst nicht genau warum, als sie ein Teelicht aus dem Spender nahm, es an einem der anderen entzündete und auf dem Pult platzierte. Kim versuchte sich vorzustellen, dass es Maria war. Sie ließ das Zungenpiercing jenseits ihrer Zahnreihe von links nach rechts wandern und gegen ihre Zähne klacken, wie immer, wenn sie warten musste. Aber so sehr sie sich auch anstrengte, die Kerze blieb eine Kerze. Sie fühlte sich nicht anders. Sie fühlte keine Verbindung, die das Licht erzeugt haben könnte. Es war nur ein Licht, jetzt wieder unter einem Fenster, das nur ein Fenster war. In einem Gebäude, das nur eine Baustelle war. Hier hörte keiner zu. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

      Draußen warteten Hannah und Suza bereits auf sie. Die Hitze be­täubte sie fast, doch Kim fühlte sich besser, wieder sie selbst. Die Zi­garette, die sie an dem Teelicht entzündet hatte, ehe es im Müll ge­landet war, hatte den bitteren Geschmack unter ihrer Zunge vertrie­ben. Ihr nasser Daumen und Zeigefinger, mit denen sie ein Teelicht nach dem anderen ausgedrückt hatte, brannten noch nach in ihrer Hosentasche.

      7. Molotov

      [Bahnhof Atocha, 17:22]. Mit Daumen und Zeigefinger fischte Sele­na das Portemonnaie aus der Hosentasche und ließ es in ihrem Är­mel verschwinden. Wie jedes Mal schien die Zeit für einen Augen­blick still zu stehen; die eine Sekunde, die es brauchte, bis das Ner­vensystem ihres Opfers die Nachricht ans Gehirn gesendet hatte, dass der Druck, der noch eben auf der Arschbacke gelastet hatte, plötzlich verschwunden war. Oder es eben nicht sendete. Oscar hielt die Luft an.

      Selena passierte den schrankgroßen Mann mit der großen Stirn ohne Probleme. Oscar trug die Teleskopstange mit dem Mikrofon, er war als nächstes dran. Er sog die Luft ein, ein großer Schritt, seine Schulter berührte die des anderen im Vorbeigehen…

      »Hey!« Der Mann drehte sich um. Seine Hand huschte an seinen Po. »Stehen bleiben, hey…«

      Und Selena blieb stehen. Braune Haare wischten Sonnenlicht bei­seite, als sie sich umdrehte.

      »Sehr gut.« Sie lachte ihr gewinnendstes Lachen und kam zurück. »Wirklich sehr gut.«

      Der Mann sah verwirrt von der bildhübschen, jungen Frau zu dem dicklichen, jungen Mann, den die Massen auf dem Vorplatz des Bahnhofs Atocha so eng an seine Brust drückten, dass er ihm mit dem Mikrofon im Gesicht herumstocherte.

      »Sie haben mein Portemonnaie geklaut«, sagte er auf Englisch, als sei er es, der sich entschuldigen müsste. Selena hatte diesen Effekt auf Männer.

      »Das hab ich.«

      Hinter ihr sorgte Nando für Platz, tat so, als würde er die Kamera anknipsen und hievte sie auf seine Schulter. Oscar nahm seinen Platz ein; hinter Selena, neben Nando. Das Bild vervollständigen.

      Selena streckte die Hand aus. »Victoria Cuentra, Antenna 3. Freut mich. Wir drehen gerade ein kleines Experiment zum Thema Ta­schendiebstahl. Aus gegebenem Anlass. Wir wollen zeigen, auf was man achten soll. Aber Sie haben sich intuitiv klasse verhalten.«

      Das Gesicht des Mannes hellte sich auf. Seine Augen huschten zu dem roten Lämpchen an der Kamera. »Sie sind vom Fernsehen?«

      »Genau.«

      Gab es letzte Zweifel in dem Kopf mit der riesigen Stirn, strahlte Selena sie weg. Sie fragte ihn, ob sie ihn interviewen könne. Der Mann nickte willig. Sie warf ihm die üblichen Fragen zu, nickte bei seinen Antworten, lachte, legte ihre Hand auf seinen Unterarm, wenn sie es passend fand. Als sie fertig waren, hatte sie kein Wort darüber verloren, worauf Señor Stirn achten könnte. Sie verabschie­dete sich, dankte ihm, und dann machten sie, dass sie außer Sicht­weite kamen. Dass sie ihm das Portemonnaie gar nicht zurückgege­ben hatte, bemerkte der Mann nicht für eine Sekunde.

      In einer verlassenen Seitengasse setzte Nando die Kamera ab, streifte die klobigen Kopfhörer ab und streckte sich. Oscar stellte den Teleskopstab daneben.

      »OK, das war der zweite.«

      Selena streifte ihre Bluse ab.

      Vor fünf Stunden hatten sie am Puerta del Sol angefangen und sich über die Calle de Alcalá bis zum Bahnhof Atocha vorgearbeitet. Sie hatten sich geeinigt, dass zweimal ertappt zu werden als Warn­schuss genügen sollte. Das erste Mal war es auf der Paseo del Prado passiert. Ein hochgewachsener Deutscher mit erstaunlichem Spa­nisch und Polynesen-Tattoo auf dem Oberarm hatte Selena aus sei­nen grünen Augen angeschaut, als sei sie das faszinierendste, das er je gesehen hatte. Nando hatte innerlich getobt, dass die Kamera ge­zittert hatte. Dass er anscheinend im Fernsehen war, hatte den Jun­gen nicht interessiert. Auch diesen Effekt hatte Selena.

      Sie teilten die Beute, wie sie es vereinbart hatten. Das Bargeld — viele Euros, einige Dollar, kaum südamerikanischer Ramsch — trennten sie vom Rest und teilten es durch drei, so gut es ging. Dann warf Selena die Brieftaschen zusammen — Oscar zählte ein­undzwanzig — und jeder bediente sich, sieben für jeden. Sie hatten sich geeinigt, sich nicht mit dem Inhalt der Portemonnaies aufzuhal­ten, und Selena griff scheinbar wahllos zu. Oscar erkannte eines als Louis Vuitton, ein anderes, mit zwei ineinandergreifenden, golde­nen Cs als Schnalle, sah ebenfalls teuer aus. Es konnten auch Imitate sein, doch er traute Selena zu, das anhand der Textur bereits erfühlt zu haben. Als sie fertig waren, blies Selena zum Aufbruch.

      Nando


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